Harald Welzer und Michel Friedman machen bei der lit.Cologne Spezial („Zerbricht unsere Gesellschaft?“) eine überaus kritische Diagnose der Gegenwart - und schaffen es trotzdem, Aufbruchstimmung zu erzeugen.
Welzer und Friedman auf der lit.Cologne Spezial„Man könnte über Habeck griechische Tragödien schreiben“
Unsere Demokratie braucht uns. So könnte man wohl den Abend der lit.Cologne Spezial zusammenfassen, die schon mit dem Titel „Zerbricht unsere Gesellschaft?“ andeutet, dass gerade einige Dinge im Argen liegen. Zur Diskussion haben sich zwei Zeitdiagnostiker auf der Bühne eingefunden, die mit ihren Büchern einen kritischen Blick auf die Gegenwart geworfen haben: Harald Welzer („Zeiten Ende: Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr“) und Michel Friedman („Schlaraffenland abgebrannt: Von der Angst vor einer neuen Zeit“). Susanne Fritz moderierte, hatte dabei aber einen entspannten Job. Ihre Gäste brachten viel Redewut mit.
Aber wie lautet die Diagnose? Friedman meint, man habe in Deutschland zu lange geglaubt, dass das Weltgeschehen das eigene Land nicht betreffe. Spätestens die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine hätten diese Sorglosigkeit erschüttert. „Wir sind total unvorbereitet, weil wir uns verkettet haben, verlangweilt haben, alles als selbstverständlich empfunden haben. Besonders die Demokratie.“
Lit.Cologne Spezial: „Zerbricht unsere Gesellschaft?“
Als Welzer ankündigt, dass er manches noch schwärzer sehe, als Friedman, öffnet der erstmal die Weinflasche, die neben ihm auf einem Tisch steht. Das Publikum lacht, Welzer kommentiert: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Am schlimmsten für ihn sei, sagt Welzer, „dass wir für keine einzige dieser Krisenerscheinungen eine Lösung haben.“ Die Rezepte aus dem 20. Jahrhundert würden nicht mehr funktionieren.
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Der Sozialpsychologe nimmt dabei insbesondere den politischen Umgang mit dem Klimawandel ins Visier: Klimaschutzpolitik und diejenigen, die dafür eintreten, würden denunziert. „Wir haben eine unglaubliche Aggressivität gegen die Grünen. Die Grünen seien das Schlimmste, was es gibt, obwohl sie das Harmloseste geworden sind, was man sich überhaupt nur vorstellen kann.“ Und wenn dann etwas ernsthaft angegangen werde, gebe es einen flächendeckenden Widerstand „und das Ding wird gekillt.“ So geschehen etwa mit dem Versuch, verschiedene politische Sektoren wie Verkehr, Industrie oder Landwirtschaft zur Einhaltung der Klimaziele verantwortlich zu machen. „Und der arme Habeck, über den man griechische Tragödien schreiben könnte, steht da und weiß überhaupt nicht mehr, was passiert ist bei der ganzen Geschichte.“
Welzer und Friedman sehen in den Krisen eine Gefährdung der Demokratie
Diese Krisen würden einen solchen Stress auf die Gesellschaft ausüben, dass diese in ihrer Überforderung auch ihre grundlegenden Prinzipien über Bord wirft. Als Beispiele nennen Friedman und Welzer etwa die Debatte um eine Aufweichung des Asylrechts. Errungenschaften wie die Demokratie seien in Gefahr. Friedman erkennt mit Hinblick auf den erstarkenden Rechtspopulismus einen antidemokratischen Teil in Deutschland, für den die Würde des Menschen antastbar sei.
Kann man das überhaupt noch ins Positive wenden? Erstaunlicherweise ja, die kritische Diagnose gerät zum Pep-Talk, der zum Eigenengagement ermutigt. Denn das Positive sei, so Welzer, dass es in Deutschland eine große Zahl an Leuten gebe, die gut denken könne, gut wähle, und an vielen Stellen klüger als die Politik und Teile der Medien sei. Er sehe in einer im guten Sinne aufgeklärten, demokratisch gesinnten Gesellschaft, die auch im guten Sinne irritiert sei, eine „unglaubliche Ressource für die Demokratie“. Besonders, wenn man an das Ehrenamt denke. Wer nur einen letzten Tritt gebraucht hat, um sich ehrenamtlich zu engagieren, hat ihn hier bekommen.
Michel Friedman appelliert zum Streit
Und auch Friedman zeigt sich voller Zuversicht. „Wir sind überhaupt nicht hilflos. Wir fangen heute Abend an. Werden Lösungen finden. Aber wollen wir anfangen?“ Man wartet fast darauf, dass er die Raute macht und „Wir schaffen das“ sagt. Welzer entgegnet kritisch, dass er auf die Lösungen gespannt ist. Doch alles in allem sind sie sich recht einig.
Es ist irgendwie ironisch, dass Friedman in dem doch recht einmütigen Abend zum Streiten appelliert. „Streiten bedeutet, Konflikte mit ganz bestimmten Regeln miteinander zu diskutieren.“ Und wichtig: Tatsachen als solche zu akzeptieren. Aber auch gegenseitige Anerkennung, nicht wie früher, an dem man etwa Frauen gar nicht erst an den Verhandlungstisch lassen wollte. „Es macht wirklich Spaß, miteinander zu streiten.“ In einer Diktatur könne man die Meinung des anderen nicht mehr hören.
Was ist also das Gegenmittel gegen die antidemokratischen Kräfte? Mit Leidenschaft für die Demokratie einzutreten. Jeder sei verantwortlich dafür, für sie zu glühen. „Aber wissen wir eigentlich, wofür wir noch glühen? Sind wir noch orientiert? Haben wir in den letzten 20 Jahren genug verhandelt? Miteinander, mit den Menschen, die hergekommen sind, mit der jungen Generation?“. Man dürfe sich auch nicht zu fein sein, sich einzumischen, wenn man im Alltag Rassismus begegnet.
Harald Welzer ermuntert zur Selbstermächtigung
Mit ihren Ermutigungen machen sie es sich natürlich etwas leicht. Gerade im Diskussionsschritt, die gleichen Tatsachen zu akzeptieren und so eine gemeinsame Grundlage zu erarbeiten, steckt bereits eine Menge Konflikt. Nimmt man da noch gezielte Desinformation und Demagogie hinzu, wird deutlich, dass man nicht nur auf Gegenliebe stößt, wenn man die demokratische Grundordnung verteidigt oder sich für Klimaschutz einsetzt.
Trotzdem tut etwas Hoffnung in diesen Zeiten gut. Welzer ermuntert also zur Selbstermächtigung, auch wenn darin eine klare Warnung steckt: „Ich denke, Demokratie hat nur dann eine Überlebenschance, wenn die Mitglieder dieser demokratischen Gesellschaft verstehen, dass sie die Verantwortung haben.“
Mit Hinblick auf die Geschichte behält auch Friedman seinen Optimismus. „Wenn man sich 1945 aufraffen konnte, bei aller Verlogenheit - und es gab fast nur Verlogenheit - und dann doch ein Land aufgebaut, wie wir es haben. Dann soll mir noch einer heute erklären, wieso wir heute nicht in der Lage wären, diese Probleme in die Hand zu nehmen.“