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Lockdown vor fünf JahrenWarum die Corona-Aufarbeitung bisher gescheitert ist

Lesezeit 7 Minuten
Abstand halten! Unterrichtsbeginn nach dem ersten Lockdown in einer Grundschule in Gladbeck. . LutzxvonxStaegmann

Abstand halten! Unterrichtsbeginn nach dem ersten Lockdown in einer Grundschule in Gladbeck. . LutzxvonxStaegmann

Vor fünf Jahren ging Deutschland in den Lockdown. Die Corona-Pandemie hatte die Welt im Griff. Warum läuft die Aufarbeitung so schleppend?

Nein, sagt Karl Lauterbach, sein Ton sei nicht in Ordnung gewesen, damals. Er sitzt im November 2024 in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ und wirkt noch zerknirschter als sonst. Gerade hat ihm Moderator Louis Klamroth Bilder einer Bundestagsdebatte aus dem März 2022 gezeigt. Darin wettert Lauterbach über „Ungeimpfte, die das ganze Land in Geiselhaft“ hielten und „noch stolz darauf sind!“.

Lauterbach guckt sparsam. „Diesen Ton finde ich vielleicht nicht optimal, wenn ich das jetzt so sehe“, sagt er. Es sei eben eine „schwierige Lage“ gewesen. Die Emotionen. Die Unklarheiten. Man müsse verstehen.

Fünf Jahre ist es her, dass sich Corona wie eine giftgrüne Wolke über den Planeten schob. Globaler Ausnahmezustand. Zugemauerte Ausfallstraßen in China. Desinfektionsmittel auf Paletten. Gelbe Schlagzeilen in der „Bild“ über das „China-Virus“. Diskussionen über Aerosole, Inzidenzen, R-Wert, die Osterruhe, die Bundesnotbremse und Klopapier, das „weiße Gold“. Deutschland geht in den ersten Lockdown.

Wörter wie aus einem Weltkrieg

„Social Distancing“. Weltrettung durch Nichtstun. Hamsterkäufe. Triage. Nächtliche Ausgangssperre. Wörter wie aus einem Weltkrieg. Einsamkeit in den Altersheimen. Besuchsverbot. Die Seuche Angst erfasst fast alle.

Kinder, die auf dem Schulhof in Kreidekreisen stehen. Autokonzerte, Flugverbot, Geisterspiele im Stadion. Armeelastwagen voller Särge in Bergamo. Selbstgenähte Masken. Bunt und gut gemeint, aber - wie man heute weiß – überfordert im Kampf gegen diesen winzigen Gegner, nur ein paar Millionstelmillimeter groß. Die Faktenlage ist dünn. Der Wissensdurst gewaltig. Allein in der Woche vom 16. bis 23. März 2020 erscheinen in den deutschen Medien mehr als 221.000 Beiträge zum Thema Corona.

Attila Hildmann und „der Wendler“ werden zu Superspreadern des Irrsinns

In den Lücken, die die Fakten lassen, wuchert der Wahnsinn. Corona wird durch 5G-Funkmasten ausgelöst. Bleichmittel schützt vor Infektionen. Bill Gates will uns Mikrochips implantieren. In verwirrenden Zeiten dürstet es Menschen nach erlösenden Weltentschlüsselungsmodellen. Vegankoch Attila Hildmann und „der Wendler“ werden zu Superspreadern des Irrsinns.

Ein Monolith des Faktischen dagegen: Christian Drosten. Der Markenkern des Charité-Virologen: die maximale Versachlichung. Der immer gleiche Erzähltonfall wirkt wie ein Laudanum auf die erregten Seelen. Niemand sagte so schön „Ionen-Milieu“ oder „Transmembran-Protease“ wie Prof. Dr. Drosten. So vieles war verwirrend. Kennt jemand noch den Unterschied zwischen „Lockdown“, „Shutdown“, „Brücken-Lockdown“ und „Lockdown Light“?

Natürlich wirkt Flatterband um Parkbänke heute albern

Eine Aufarbeitung dieses kollektiven Traumas aber hat kaum stattgefunden. Viele Fragen sind ungeklärt. Stammt das Coronavirus aus einem Labor im chinesischen Wuhan? Zumindest der Bundesnachrichtendienst sieht für diese Hypothese Indizien, China sieht das anders, reagiert gereizt. Und warum wogen hierzulande für die Politik die Nöte der Wirtschaft lange schwerer als die von Familien und Kindern? Warum wurden die strengen 3-G-Regeln erst so spät aufgehoben? Was war übertrieben, was gerechtfertigt? Und wie verlief die Pandemie eigentlich noch gleich?

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). (Archivbild)

Der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). (Archivbild)

Es ist im Rückblick immer verlockend, Vergangenes mit dem Wissen von heute zu lesen. Natürlich wirkt Flatterband um Parkbänke heute albern. In Wahrheit aber wusste niemand irgendetwas, zumindest im ersten Lockdown. Wer hätte damals Politiker sein wollen? Verantwortlich für 82 Millionen Leben? Prävention ist uncool. Prävention heißt: Richtlinien, Verbote, Strafen. Aber der Erfolg von Prävention ist häufig gleichzeitig sein Fluch: Verhinderte Schäden kann man nicht sehen. Das ist das sogenannte Präventionsparadoxon. „Ich bin immer ganz neidisch auf diejenigen, die schon immer alles gewusst haben“, sagte damals Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU).

Menschen brauchen Schuldige

Corona ließ viel Raum für Gram und Hader. Menschen brauchen Schuldige. Und sei es Bill Gates. Es war eben auch ein gesellschaftlicher Test, wer Unsicherheiten auf Zeit besser aushält und wer nicht.

Und so versammelte sich bald ein Potpourri der Paradoxien zu „Hygienedemos“: Klimaleugner, Prepper, Wissenschaftsfeinde, „Reichsbürger“, linke Kulturpessimisten, grüne Impfgegner, Esoteriker. Nicht alle waren rechts, nicht alle waren links. Aber fast alle einte der feste Glaube, gegenüber der masketragenden Mehrheit einen Wissensvorsprung zu haben.

Die Nerven lagen schnell blank. Es war auch ein publizistischer Stresstest. Die Welt der Wissenschaft kollidierte mit der Welt des lukrativen Youtubegeplärrs. Wer starb „an Corona“, wer starb „mit Corona“? Pandemien sind eben nicht nur medizinisch-biologische, sondern vor allem auch soziale und politische Phänomene. Ihre Choreografie wird nicht nur von Infektionskurven und Todesstatistiken bestimmt, sondern wesentlich von Ängsten, Mythen, Hypes und Alarmismen. Sie sind immer auch Indikatoren der sozialen Struktur einer Gesellschaft und ihrer Schwächen.

Die menschliche Seele verlangt nach Eindeutigkeit. Zwischenzustände sind Gift für den Geist. Das war es, was die Corona-Pandemie so zermürbend machte: ihre Uneindeutigkeit.

Die Aufarbeitung im Bundestag scheiterte bisher

Umso dringender müsse die Gesellschaft die Pandemie systematisch aufarbeiten, forderte auch Drosten jüngst im Deutschlandfunk. Er wünsche sich „eine Diskussion über gesellschaftliche Grundwerte wie die Unversehrtheit des Lebens oder den Freiheitsbegriff“. Im Bundestag ist der Versuch, die Coronakrise aufzuarbeiten, gescheitert. Die SPD wünschte sich einen Bürgerdialog, die FDP eher eine Enquetekommission mit Gutachten und Expertenanhörungen. Im Juni 2024 beschloss man beides. Und brachte doch nichts zustande. Im November zerbrach dann die Ampel.

Eine bundesweite institutionelle Aufarbeitung fand bis heute nicht statt. Lediglich in einzelnen Bundesländern beginnen Gremien mit der Arbeit, etwa in Thüringen und Sachsen – dort auf Betreiben der AfD. Woran hakt es? Sind es die multiplen Weltkrisen, die das vermeintlich „abgeschlossene“ Thema Corona überlagern? Ist es der Mangel an politischem Willen, Fehler zuzugeben? Man werde einander „viel verzeihen müssen“, prophezeite Spahn. Eine vorauseilende Bitte um spätere Bewertungsgnade.

Rückte während der Corona-Pandemie in Fokus: Bayern-Spieler Joshua Kimmich. (Archivbild)

Rückte während der Corona-Pandemie in Fokus: Bayern-Spieler Joshua Kimmich. (Archivbild)

Fest steht: Es wurden Fehler gemacht. Manche sind erklärbar durch den damaligen Wissensstand (die Schulschließungen). Manche nicht (der Maskenbetrug, die Testcenter-Mafia). Viele Medien verfielen vor allem im zweiten Lockdown phasenweise in monothematischen Alarmismus. Die Stigmatisierung Ungeimpfter trug zuweilen inquisitorische Züge – wie während der wochenlangen Empörung über Joshua Kimmichs Impfzurückhaltung. Umgekehrt war das Märtyrergehabe manches Coronaleugners absurd.

Die psychischen Folgen der – heute weithin als übertrieben bewerteten – Schulschließungen wirken bis heute nach. Die Zahl der Depressionen bei Jugendlichen stieg zwischen 2018 und 2023 um 30 Prozent an. Tausende leiden zudem an Long Covid. Hinter den nüchternen Zahlen verbirgt sich eine gesellschaftliche Katastrophe.

„Pandemie der Ungeimpften“

Jens Spahns unglückliches Wort von der „Pandemie der Ungeimpften“ wird in einem 2024 öffentlich gewordenen Sitzungsprotokoll aus dem Robert Koch-Institut (RKI) widerlegt. „Aus fachlicher Sicht nicht korrekt“, heißt es da. Die Gesamtbevölkerung trage zur Ausbreitung des Virus bei. Hat die Politik also – wie Impfskeptiker argwöhnen – wider besseres Wissen Ungeimpfte zu Sündenböcken und Haupt-Pandemietreibern gestempelt?

Das RKI stellt gegenüber der „Tagesschau“ klar, dass „Ungeimpfte signifikant häufiger schwere Krankheitsverläufe entwickelten und überproportional häufiger auf Intensivstation behandelt werden mussten als Geimpfte, und darüber hinaus auch mehr zur Virus-Transmission in der Bevölkerung beitrugen“. Spahns Formulierung war also zuspitzend, aber nicht völlig von der Hand zu weisen.

Die Diskussionskultur hat Schaden genommen

Es waren harte, unversöhnliche, hypernervöse Zeiten. Die Diskussionskultur hat Schaden genommen, bis heute ist das spürbar. Die Fähigkeit, Widersprüchliches und Unklares auszuhalten, ohne sofort zu eskalieren, nennt man Ambiguitätstoleranz. Sie ist massiv gesunken. Die öffentliche Debatte leidet unter Long Covid.

Natürlich war nicht jeder, der Maske trug, ein staatstreues Schäflein. Nicht jeder Skeptiker, der keine trug, war ein ignorantes Arschloch. Nicht jeder, der dazu aufrief, Ängste ernst zu nehmen und in unklaren Lagen lieber zu vorsichtig als zu nachsichtig zu sein, war ein Hetzer und Spalter. Nicht jede Einschränkung war ein Angriff auf Grundrechte und nicht jede Grundrechtseinschränkung nützte dem Lebensschutz.

Weit verbreitet war die Ansicht, ein autoritärer Staat wolle die Pandemie nutzen, um die Freiheit seiner Bürger willkürlich einzuschränken. Wenn das das Ziel gewesen sein sollte – wie erklärt sich dann, dass sämtliche Maßnahmen absehbar nur auf Zeit galten?

Man vergisst das schnell: Corona war nicht nur real. Corona war lange tödlich. Mehr als sieben Millionen Menschen fielen der Seuche bis heute weltweit zum Opfer. 187.369 Menschen sind hierzulande bisher im Zusammenhang mit COVID-19 gestorben – „an“ oder „mit“ der Krankheit.

Freundschaften sind über diese Fragen zerbrochen, Gräben verlaufen bis heute durch Familien. Eine umfassende Aufarbeitung böte nicht nur Lehren für kommende Pandemien. „Aufarbeitung würde die Chance schaffen, Menschen zurückzugewinnen, die ihr Vertrauen in die Demokratie verloren haben oder zumindest daran zweifeln“, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD). „Es eilt.“

Damals, als wir verlernten, aufeinander zuzugehen

65 Prozent der Befragten in einer NDR-Umfrage sind für „mehr Aufarbeitung“. 44 Prozent glauben heute, dass die Maßnahmen „zu weit gingen“. Während der Pandemie dachten das nur 34 Prozent. Dennoch ist das Land vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie gekommen. Anderswo empfahl ein Präsident die Einnahme von Desinfektionsmitteln zur „Reinigung des Körpers“. Die USA verzeichneten mit etwa 1,1 Millionen Todesfällen die höchste Anzahl an COVID-19-assoziierten Todesfällen weltweit.

Der Psychiater Florian Zepf aus Jena bezeichnete Kinder und Jugendliche als die „Hauptleidtragenden der Krise“. Zumindest ihnen schuldet die Gesellschaft die Bereitschaft, sich der Coronazeit zu stellen. Denn so wie Lauterbach wird es heute vielen gehen: Nein, der Ton war nicht immer in Ordnung. Damals, als wir plötzlich verlernen mussten, aufeinander zuzugehen – und es bis heute nicht wieder gelernt haben.