AboAbonnieren

Literatur im LockdownSechs neue Buchtipps unserer Kultur-Redaktion

Lesezeit 20 Minuten
14952E00C6A4687E

Der norwegische Autor Karl Ove Knausgard kommt erstmals zur lit.Cologne.

Karl Ove Knausgårds Debütroman „Aus der Welt“ liegt endlich auf Deutsch vor. Neben diesem interessanten, wenn auch in Teilen kritisierten Werk hat die Kultur-Redaktion noch weitere Buchtipps zusammengestellt.

Karl Ove Knausgård „Aus der Welt“

Dieser Roman ist ein Skandal. Oder vielmehr, er wäre es, veröffentlichte Karl Ove Knausgård ihn heute, als weltberühmter Autor und in diesem kulturellen Umfeld, in dem man sogar für Erdachtes gecancelt werden kann. Manchmal sogar ganz zu recht. Denn es ist ja gut, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man Kunst (die dann eigentlich immer die Kunst von Männern war) auf einen Sockel stellte, der sie über die Gesellschaft und deren Werten erhob, aus der Welt.

Tatsächlich aber ist „Aus der Welt“ bereits 22 Jahre alt, da hatte diese Debatte akademische Kreise noch nicht verlassen. Es ist der maßlose Debütroman, mit dem sich der kaum 30-jährige Norweger in die Literaturgeschichte seines Landes einschrieb, mit Hamsun und Dostojewski verglichen wurde, obwohl Proust und Nabokov die offensichtlicheren Paten von „Aus der Welt“ sind.

Zur Person

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiografischen Projektes „Min Kamp“ (deutsch: „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“, „Kämpfen“) wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. Mit der schwedischen Autorin und Lyrikerin Linda Boström Knausgård hat er vier Kinder. Er lebt in London.

Jetzt also ist dieser Roman zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt worden, zum Glück wieder von Paul Berf, der bereits den Großteil der sechsbändigen, schonungslosen Lebensbeichte Knausgårds in klare, traumartige und ungemein soghafte Sätze übertragen hat. Doch man liest ihn zwangsläufig anders, als man das 1998 getan hätte, also lange bevor der Autor zum König der Autofiktion ausgerufen wurde.

„Sie ging neben Camilla und warf mir einen raschen, verstohlenen Blick zu, bevor sie in den Flur bog. Ich sah ihren schlanken, strammen Hintern, absolut perfekt geformt. Eine Art Abgrund öffnete sich in mir.“ Die Stelle findet sich nicht in „Aus der Welt“, sondern in „Leben“, dem vierten Band des autobiografischen Projekts. Knausgård ist hier erst 18 Jahre alt, hat gerade das Abitur gemacht und sich verpflichtet, für ein Jahr als Aushilfslehrer an einer Dorfschule in Nordnorwegen zu unterrichten. Er ist noch Jungfrau und voller Komplexe. Hier starrt er gerade notgeil und verzweifelt einer 14-jährigen Schülerin hinterher.

Soweit – wenn wir die Versicherung des Autors beim Wort nehmen, dass er mit der Fiktion abgeschlossen habe – die ungeschminkte Wahrheit. In „Aus der Welt“ heißt der Protagonist und Ich-Erzähler Henrik Vankel, auch er unterrichtet für ein Jahr an einer kleinen Schule im äußersten Norden Norwegens, auch er schaut den kleinen Mädchen hinterher. Aber Vankel ist bereits 26 Jahre alt, hat sein Studium abgeschlossen, und macht vor keinem Abgrund halt: Er verliebt sich in seine 13-jährige Schülerin Miriam.Mehr als das, er stellt ihr hinterher, nutzt den Umstand aus, dass sie für ihren Lehrer schwärmt, wie manche 13-Jährige eben für ihren Lehrer schwärmen mögen, und schläft schließlich mit ihr.

Woraufhin Vankel, ein pädophiler Straftäter, gleichwohl völlig reuelos, fluchtartig das Dorf verlässt. Ein Skandal? Das nicht. Wozu sollte Literatur denn gut sein, wenn nicht, um die Abgründe auszuloten, die an jeder Ecke lauern? Klugerweise hat der Luchterhand Verlag den Einband der deutschen Ausgabe mit einer Fotografie Yngve Knausgårds, des älteren Bruders, gestaltet. Sie zeigt die Lichter eines nordnorwegischen Dorfes, vom Eismeer aus gesehen. Das Original schmückte dagegen ein Akt des Mädchen-Fotografen Jock Sturges

Das könnte Sie auch interessieren:

Dabei ist „Aus der Welt“ nun wirklich alles andere als ein erotischer oder gar pornografischer Roman. Nur im ersten Drittel, wenn Henrik einmal zu oft schwärmerisch „die kleinen Brüste“ seines begehrten Objekts beschreibt, ist man kurz versucht, den schweren Schinken in die nächstbeste Schmuddelecke zu schmeißen. Aber da gehört er nicht hin. Überhaupt: Viel schlimmer als der sexualisierte Blick eines (fiktiven) Mannes auf ein (fiktives) minderjähriges Mädchen ist der Umstand, dass diese Miriam weniger als eigenständige Figur, denn als Symbol von Henriks verlorener Unschuld und bloße Erzählfunktion existiert, gerade kokett genug, um den Anti-Helden in eine existenzielle Krise zu werfen.

Diese Kritik muss sich Karl Ove Knausgård gefallen lassen, oder wenigstens sein jüngeres Schriftsteller-Ich. Denn selbstverständlich war die literarische Überhöhung pädophilen Begehrens auch 1998 kein blinder Fleck, sondern eine bewusst vom Autor gesetzte Provokation. Ganz ähnlich derjenigen, als Vierzigjähriger eine Tausende von Seiten umfassende, sechsbändige Autobiografie unter dem unmöglichen Übertitel „Mein Kampf“ zu veröffentlichen. Der Autor begibt sich freiwillig ins Abseits, um von hier aus gegen jede Regel, dafür ungestört ins Tor zielen zu können. Vielleicht ist das seine einzig noch mögliche Position. Die interessantesten Romane der vergangenen Jahre wurden von Frauen geschrieben, von Elena Ferrante bis Ali Smith, von Hilary Mantel bis Otessa Moshfegh, Rachel Kushner oder Jennifer Egan. Aber geht es um die Krise des männlichen Egos, muss man weiterhin zu Knausgård greifen.

Dieser Henrik, in dem viel, nur eben längst nicht alles vom jüngeren Karl Ove aus „Leben“ steckt, ist ein ausgesprochen jämmerlicher Held. Seine Wahrnehmung ist von Selbsthass und -hass verzerrt, er ist narzisstisch, überempfindlich, rücksichtslos, ja verschlagen. Dass der Leser nicht nur willens ist, den Reflexionen dieses Menschen über 928 Seiten zu folgen, sondern von ihnen geradezu mitgerissen wird, zeigt dann freilich auch die unleugbare schreiberische Brillanz des Norwegers.

„Aus der Welt“ ist kein Jugendwerk, man findet in seinen Seiten bereits den ganzen Knausgård: Die Erinnerungsschleifen, die sich in anderen Erinnerungsschleifen verbergen, das in fast unerträglicher Intensität heraufbeschworene Gefühl der Scham, der bohrende Blick auf den Alltag, unter dem sich nie zuvor in Frage gestellte Selbstverständlichkeiten aufzulösen scheinen.

Auf der langen Fahrt vom Norden nach Kristiansand erzählt Henrik Vankel die Geschichte seiner Eltern, und einmal angekommen in der Stadt seiner Jugend, erinnert er sich an seine Jahre als krankhaft schüchternen Außenseiter auf dem Gymnasium, an seine desaströsen Annäherungsversuche ans andere Geschlecht und an das noch viel kaputtere Verhältnis zu seinem alkoholkranken Vater. Der ist nun wiederum ganz bestimmt ein Porträt des realen Knausgård-Vaters, der als böser Geist über dem gesamten „Mein Kampf“-Projekt schwebt. Henrik ist nur das schlechtmöglichste Ergebnis einer langer Reihe ödipaler Verletzungen.

So empathielos sich Henrik gegenüber seinen Mitmenschen verhält, so ungebremst animiert sein Vorstellungsvermögen seine Umgebung, er versetzt sich in Katzen und Ameisen, betrachtet die Welt aus der Sicht von Bäumen und Steinen, bis er schließlich im Traum die gewaltige, Steampunk-artige Phantasmagorie einer alternativen Welt hervorbringt, in der die Bibliothek von Alexandria nie zerstört wurde, Dante sich, statt die „Göttliche Komödie“ zu schreiben, als Volkstribun gerierte – und der Träumer selbst am Bau von vier Türmen unbekannter Funktion mitarbeitet, die himmelhoch aus einem Fjord aufragen.

„Aus der Welt“ ist eher vier Romane als einer, in der Mitte des Buches findet man seine Poetik – sprich: seine Gebrauchsanweisung – in Gestalt eines Aufsatzes über die Entwicklung der Form: „ausbalanciert und formvollendet“ seien die Romane des 19. Jahrhunderts, die nur von „soignierten, gut genährten Herren“ hätten geschrieben werden können, „unfertig“ und „unreif“ die des 20. Jahrhunderts, ihre Autoren „schlank und nervös wie russische Windhunde“.

„Aus der Welt“ will gleichermaßen neu, unfertig, schockierend, unreif, allumfassend und ausbalanciert sein. Ein unmögliches Unterfangen. Erstaunlich nur, wie nahe Knausgård seinen hoch gesteckten Zielen kommt.

Elif Shafak: „Schau mich an“

Wenn man dick sei, könne man nicht unbemerkt bleiben, konstatiert die namenlose Ich-Erzählerin, nachdem sie sich wieder einmal schwitzend und voller Scham durch eine tuschelnde Menge zum Ausgang einer Straßenbahn gedrückt hat. Die Menschen „schauen, sie glotzen, die deuten auf einen, reden über einen, aber eigentlich ist man nichts weiter als Anschauungsmaterial.“ Dass diese Blicke sie stören könnten, komme den Leuten nicht in den Sinn. „Sie schauen mich an, aber sie sehen mich nicht.“

Vergebens versucht die schwergewichtige junge Frau, „den Blicken der Menschen zu entkommen, ihren Augen, die mich unentwegt mustern, auf mich zeigen“. Irgendwann kündigt sie ihren Job, um nicht mehr auf die Straße gehen zu müssen, und verdämmert ihre Tage auf der Dachterrasse unter einem Sonnenschirm. Denn „da draußen“, in den Straßen von Istanbul, ist das Land, „wo einem Etikette verpasst“ werden. „So wie ein Raucher abends Tabakgeruch in den Haaren hat, roch ich beim Nachhausekommen die Buchstaben d-i-c-k in meinen Haaren. Darum wusch ich mir immer gleich als Erstes den Kopf und sah zu, wie die Buchstaben kreisend im Abfluss verschwanden. Manche aber gingen nicht heraus, sie klebten an mir wie Kletten.“

Erfrischende Selbstironie

Eindringlich schildert die türkischstämmige Autorin Elif Shafak in ihrem bemerkenswerten Roman „Schau mich an“ die Qualen einer Frau, die nicht aufhören kann zu essen, auch wenn sie das gern möchte. Lässt sie mit einer erfrischenden Selbstironie von ihren Fress- und Kotzattacken erzählen, von schwierigen Fahrten in türkischen Sammeltaxis, von desaströsen Ausflügen ins Istanbuler Nachtleben und ihrer erfolglosen Grapefruitdiät. Allein in der Gegenwart ihres Freundes BC fühlt sie sich wohl. „Was immer wir über das Aussehen des anderen zu sagen hatten, hatten wir uns gleich am ersten Tag gesagt. Und wie auch immer unsere Körperformen sich gestalteten, waren wir für das Auge des anderen so fließend und wandlungsfähig wie Wasser.“Denn BC ist klein. Sehr klein. Kaum 80 Zentimeter misst der Mann mit den großen Händen und dem vogelgleichen Kinderkörper.

Und so macht er tagtäglich ähnliche Erfahrungen wie seine schwergewichtige Freundin. Auch ihm, der an einem „Lexikon der Blicke“ arbeitet, werden „die tiefsten Wunden über die Augen versetzt“. Unablässig ist er der Neugier einer Welt ausgesetzt, die sich kaum sattsehen kann an seinem Anderssein. Dennoch wagt er sich, anders als die Frau an seiner Seite, immer wieder hinaus in eine Welt, die in ihm nur den „Zwerg“ und nicht das Individuum sieht.

Doch „Schau mich an“ ist weitaus mehr als ein Buch über eine dicke Frau und einen kleinwüchsigen Mann, die sich zurechtgerappelt haben in ihrer Außenseiterrolle und – so scheint es zumindest – aneinander Halt finden. Da gibt es noch eine skurrile Parallelgeschichte über den märchenhaften Keramet Mumi Keske Memis Efendi, dessen merkwürdig starres Gesicht aus Wachs ist und der in einem Kuriositätenkabinett die hässlichste und die schönste Frau der Welt ausstellt. Wir erfahren, was es mit dem schrecklichen Zobelmädchen und der wunderschönen Annabelle auf sich hat und warum aus einem schlanken Mädchen eine esssüchtige Frau wird. Virtuos spielt Elif Shafak mit verschiedenen Zeitebenen und Erzählelementen und flicht daraus ein wunderbares und lebenskluges Buch über die Macht der Blicke, denen niemand entgehen kann. Denn „wir fürchten uns sowohl davor, gesehen zu werden, als auch vor allem, was wir nicht sehen“. Weil „doch unser ganzes Sein, und natürlich auch unser Nichtsein, eigentlich auf dem Sehen und Gesehenwerden gründet“.

Petra Pluwatsch

Elif Shafak: „Schau mich an“, deutsch von Gerhard Meier, Kein und Aber, 400 Seiten, 24 Euro, E-Book: 19 Euro.

Ayad Akhtar: „Homeland Elegien“

Einen guten Roman zeichnet aus, dass er uns nicht nur unterhält, sondern uns auch Antworten gibt auf das Rätsel Welt, das Rätsel Mensch – kurz: dass er uns klüger werden lässt. Wenn das gilt, ist Ayad Akhtars Roman „Homeland Elegien“ ein ganz herausragendes Buch. Denn haben wir wirklich verstanden, was in den USA passiert, wie die Gesellschaft tickt, warum sie einen brachialen Populisten, notorischen Lügner und Rassisten wie Donald Trump hervorbringt? Dazu gibt es zahlreiche Sachbücher – und den brillanten Roman des amerikanischen Autors Ayad Akhtar.

„Homeland Elegien“ ist ein autobiografischer Roman, er bedient sich tatsächlicher Figuren und Begebenheiten, gestaltet die Handlung aber so, dass Fiktion und Fakten in einem schillernden Wechselspiel verschmelzen. Entsprechend heißt die Hauptperson wie der Autor Ayad Akhtar, ist Sohn pakistanischer Einwanderer und Muslim, darüber hinaus gefeierter Schriftsteller, unter anderem ausgezeichnet mit dem renommierten Pulitzer-Preis und Amerikas meistgespielter Dramatiker. Sein Vater, bekannter Kardiologe, ist von einer geradezu naiven Begeisterung für den American Way of Life erfüllt. Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 hat er Donald Trump gewählt, weil er sich von dessen fremdenfeindlichen und anti-muslimischen Ausfällen gar nicht gemeint fühlt. Er ist ja schließlich wohlsituierter Mediziner, braver Steuerzahler und glühender Patriot, in dessen schmuckem Vorgarten stolz die US-Flagge weht.

Die Mutter hingegen, ebenfalls studierte Ärztin, kann in der neuen Heimat keine Wurzeln schlagen, sie fühlt sich fremd in einer Kultur, die so anders ist als im vertrauten Dorf ihrer Kindheit. Sie sehnt nichts mehr herbei als eine Rückkehr in das Land ihrer Herkunft mit seinen vertrauten Gebräuchen, mit seinen Menschen und ihrem Glauben. All das ist für den Vater Zeichen einer unverzeihlichen Undankbarkeit gegenüber den USA, das seinen Zuwanderern doch so großartige Möglichkeiten bietet.

Nie wirklich gleichberechtigt

Sohn Ayad lebt in einem permanenten Spagat. Er ist geboren und aufgewachsen in den USA, privilegiert ausgebildet, erfolgreich. Dennoch registriert er sensibel, dass er als eher dunkelhäutiger Muslim nie ganz dazu gehören, nie wirklich gleichberechtigter Teil der amerikanischen Gesellschaft werden wird. Amerika ist seine erklärte Heimat, aber es wird ihn nie aufnehmen, nie sein Zuhause werden. Ein Schlüsselmoment ist für Akhtar der islamistische Anschlag vom 11. September in New York. Als er Blut spenden will, wird er Ziel von aggressiven Drohungen, weil er fälschlich für einen Araber gehalten wird. Aus Angst vor Übergriffen trägt er, der nicht gläubige Muslim, eine Kette mit Kreuz um den Hals. Auch Reaktionen auf eins seiner Theaterstücke, das unterschiedliche Perspektiven auf den islamistischen Terror thematisiert und das Gut-Böse-Schema in Frage stellt, bringt ihm feindselige Kommentare ein.

Klug beschreibt Ayad Akhtar die teils unbedachten, teils vorsätzlichen Vorbehalte, denen er sich wegen seiner Hautfarbe und seiner Glaubenszugehörigkeit ausgesetzt sieht. Sie entlarven die große Erzählung vom Schmelztiegel USA, sie zeigen ein zutiefst unsicheres, zerrissenes Land, das lediglich durch die besinnungslose Anbetung von Geld zusammengehalten wird und das seine Ängstlichkeit mit roher Aggressivität bekämpft. Trump ist deshalb kein bizarrer Ausnahmefall, er ist Ausdruck einer schrecklichen Durchschnittlichkeit, er ist Symbol eines Zustands. Besser als Akhtar es in seinem eleganten, unlarmoyanten Roman beschrieben hat, kann man es kaum ausdrücken.

Michael Hirz

Ayad Akhtar: „Homeland Elegien“, deutsch vonDirk van Gunsteren, Claasen, 464 Seiten, 24 Euro, E-Book:20 Euro.

Anna Stern: „das alles hier, jetzt“

Anna Sterns Roman „das alles hier, jetzt“ ist anders. Das ist schon einmal nicht schlecht. Und sobald der Leser ein, zwei Hürden der Eingewöhnung überwunden hat, wird es immer besser. Am Ende steht fest: das ist richtig gute Literatur. So sahen es auch die Juroren des Schweizer Buchpreises, die im November beim Abwägen ihrer Shortlist nicht dem süffigen Erzählen ihre Stimmen gaben, was auch legitim gewesen wäre, sondern dem experimentellen Erzählen: „Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.“

Das alte Thema, das in konsequenter Kleinschreibung verhandelt wird, ist der Verlust einer geliebten Person. Ananke gehörte zum innig-engen Freundeskreis, den wir im Verlauf der Lektüre immer besser kennenlernen. Aber ob Ananke nun Frau oder Mann oder von anderem Geschlecht ist, werden wir nicht erfahren. Eine Geschlechter-Zuordnung bleibt auch bei der Erzählstimme offen, hinter der wohl Ichor steckt. Ja, grundsätzlich sind alle Namen – und es gibt viele Namen – wie aus einem neutralen Gender-Topf gezogen: Eden, Egg, Avi, Swann, Bas, Arlo, Roan.

Ungewöhnlich ist zudem die Aufteilung der Buchseiten auf zwei Zeithorizonte. Links lesen wir, was in der Gegenwart geschieht, rechts in blasserer Schrift die Erinnerung an Ananke und die anderen. Das ist für den Leser dann besonders ungewohnt, wenn er einem Erzählstrang auf der Rechten über zweieinhalb Seiten folgt und zurückblättern muss, um zu sehen, was auf der Linken in kürzeren Segmenten abgehandelt worden ist.

Roadtrip in eine neue Zukunft

Erst zum Finale, nach 150 Tagen ohne Ananke, wird diese Zweiteilung aus gutem Grund aufgegeben. Da stellt Vienna fest: „das geht so nicht weiter, das macht uns kaputt.“ Sie entwickelt eine „fantastische idee“: eine Expedition in den Süden, erst in einem entwendeten alten Mercedes und dann, weil man mit dem „Adenauer“ nicht an der Grenze auffallen möchte, weiter im Zug. Ein Roadtrip in eine neue Zukunft.Die Schweizerin Anna Stern, 1990 in Rorschach am Bodensee geboren, schildert einnehmend, zuweilen soghaft eine tiefe Freundschaft. Da macht der Verlust zuweilen sprachlos, so dass manche Sätze nur begonnen, aber nicht zu Ende gebracht werden können. Immerhin ist das Schreiben eine Stütze: „erst jetzt, nach anankes tod, finden dich die worte so, wie du dir das immer vorgestellt hast.“ Es ist ein neues Schreiben: „deine bisherigen texte waren nur raffiniert konstruierter plot ohne substanz, jeder satz mit so viel geduld und umsicht redigiert, dass deine geschichten teflon glichen; nicht spiegel für den leser, nicht fenster in eine neue welt.“Ja, die erzählende Person sagt nicht „ich“, sondern „du“. Eine Art von Distanzierung, könnte man meinen, aber sicher sind wir da nicht. Fest steht, dass hier feinporig erzählt wird. In einem melancholischen, poetischen Ton: „mir ist, als wärs erst gestern gewesen, sagt eden, und obwohl du nicht weißt, wovon eden spricht, nickst du, denn: es spielt keine rolle, wovon eden spricht: es ist alles, als wäre es erst gestern gewesen. Oder erst morgen.“

Wo Freundschaft war und Verlust ist, waltet die Angst, das Erlebte zu vergessen. Doch man kann nicht alles in der Erinnerung festhalten: „die bilder werden unscharf an den rändern“. Anna Stern, die an der ETH Zürich im Fach Biologie doktoriert, steuert dazu einige naturwissenschaftliche Erkenntnisse bei. Ihr Roman legt nahe, dass man das Vergangenen auch mal vergangen sein lassen muss, um die Gegenwart nicht zu verlieren. Im Sinne des Buchtitels: „das alles hier, jetzt“.

Martin Oehlen

Anna Stern: „das alles hier, jetzt“, Salis Verlag, 242 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

Mary Beth Keane: „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“

Es gibt vermutlich keine andere Aussage, die ein Kind so sehr trifft wie diese, wenn sie aus dem Mund der eigenen Mutter kommt: „Es tut mir leid, dass ich ein Kind bekommen habe. Es gibt nichts, was ich mehr bereuen würde.“ Peter, der als Sohn eines Polizisten und einer Krankenschwester in Gillam, einer gepflegten Vorstadt von New York als Einzelkind aufwächst, nimmt ihn hin, ohne ein Wort zu sagen. Interessant ist, dass diese Szene in Mary Beth Keanes Roman „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“ nicht aus der Perspektive des Kindes geschildert wird, sondern aus der seiner Mutter Anne, der es erst viele Jahre später gelingt, sich dem zu stellen, was sie mit diesen Worten – und ihren Taten – angerichtet hat.

Nach außen scheint das Leben von Anne Stanhope, ihrem Mann Brian und ihrem einzigen Sohn Peter ein normales, durchschnittliches, amerikanisches Vorstadtleben zu sein. Im Haus nebenan wohnen Francis und Lena Gleeson mit ihren drei Töchtern. Francis und Brian sind Polizisten, gingen Anfang der 70er gemeinsam auf Streife und zogen beide jung verheiratet in das Vorstadt-Idyll. Peter und Kate, die jüngste der Gleeson-Schwestern, sind gleich alt und seit frühester Kindheit miteinander befreundet. Doch obwohl die beiden ein enges Verhältnis haben, die Familien Nachbarn sind und die Männer denselben Beruf ausüben, bleibt das Verhältnis unterkühlt. Denn alle wissen, dass mit Anne irgendetwas nicht stimmt.

Sie wittert Verschwörungen gegen sie, wo keine sind, ist oft ungerecht und boshaft zu Peter, der immer versucht, ihr alles recht zu machen, und verlässt oft tagelang das Bett nicht. Ihr Mann Brian nimmt das alles stoisch zur Kenntnis, seiner offensichtlich depressiven und an einer Persönlichkeitsstörung leidenden Frau hilft er nicht.

Tragödie als Roman-Mittelpunkt

Und Peter, der in der Schule und beim Sport glänzt, muss schon als Kind Dinge regeln, die ihn völlig überfordern. Einzig die Freundschaft zu Kate gibt ihm Halt. Doch eben diese Freundschaft ist es, die irgendwann eine große Katastrophe heraufbeschwört, die beide Familien in den Grundfesten erschüttert, die eine zerstört und die andere schwer beschädigt.

Mary Beth Keane rückt die Tragödie, die sonst oft am Ende solcher Geschichten steht, in den Mittelpunkt ihres amerikanischen Familienromans, der einen Bogen über mehr als 50 Jahre spannt. Hier ist eben mit dem großen Knall nicht alles vorbei, hier müssen Menschen weiterleben mit Schuld, Scham und dem Wunsch nach Vergebung. Und Peter und Kate, die sich über Jahre aus den Augen verlieren, finden irgendwann wieder zusammen, doch so rosig, wie sich ihr Leben immer ausgemalt hatten, ist es dann eben nicht.Welches Päckchen geben uns unsere Eltern mit auf unseren Lebensweg? Können wir es schultern oder nicht? Und was haben wiederum ihre Eltern ihnen aufgebürdet, von dem sie sich nicht befreien können? Wie kann Vergebung gelingen? Ist es unsere Verantwortung, die Familie um jeden Preis zusammenzuhalten? Und kann man sich überhaupt von seinen Nächsten lossagen, ohne bleibende Verletzungen davon zu tragen? Es sind große Fragen, die Keane am Beispiel von Menschen verhandelt, die im besten Sinne durchschnittlich sind.

Die Amerikanerin erzählt in klarer Sprache, vermeidet Pathos und zwingt den Leser durch den stetigen Wechsel der Erzählperspektive dazu, seine gerade gefällten, oft vorschnellen Urteile zu überdenken. Ein kluger Roman, der in bester amerikanischer Erzähltradition auch noch ein richtiger Pageturner ist.

Anne Burgmer

Mary Beth Keane: „Wenn du mich heute wieder fragen würdest“, deutsch von Wibke Kuhn, Eisele Verlag, 464 Seiten, 24 Euro, E-Book: 20 Euro.

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur: Oxford Lectures“

Jenseits der Literatur“, so war einmal eine unwirsche Kritik von Marcel Reich-Ranicki überschrieben. Sie betraf Martin Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ (1976). Jenseits der Literatur: So heißt auch Durs Grünbeins neues Buch. Es ist aber keine Literaturkritik. Sondern ein geharnischter, kluger und umsichtiger Essay, hervorgegangen aus den Vorlesungen, die er 2019 als Lord Weidenfeld Lectures in Oxford gehalten hat. Durs Grünbein wirbt hier fürs Schreiben mit dem Gesicht zu einer Geschichte, die mit ihren Schock-Erfahrungen jedes Schreiben in Frage stellen kann. Das ist aber nur die eine Seite. Auf der anderen ist es die „Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“. Genau um dieses Verhältnis von dichterischer Freiheit und Bindung an Geschichte geht es in Grünbeins Essays.

Grünbein geht sein Thema in Erinnerungsblöcken an. Sie rufen kleine und große, individuelle und kollektive Elemente des Gedächtnisses auf. Einmal sind es eine Briefmarke mit dem Porträts Hitlers und der Fund von dessen Buch „Mein Kampf“ auf dem Dachboden der Großeltern. Anhand der Briefmarke entwickelt Grünbein ein bedrückendes Szenario der Medienpräsenz in der NS-Zeit. Dagegen hält er einen ungewöhnlichen Lebenslauf. Ein Außenseiter-Maler aus Vorarlberg, Edmund Kalb, verbrachte fast die ganze Kriegszeit in Untersuchungshaft. Von dort aus verschickte er Briefe an Verwandte, auf die er Briefmarken mit dem Hitlerporträt klebte. Jede Marke hatte er in zwei Hälften zerschnitten. „Eine Art Schadenzauber“, schreibt Grünbein und weiß zugleich, dass der Exorzismus das Bild nicht tilgen kann.

Das zweite Kapitel behandelt die Autobahnen. Grünbein geht der Ideologie und der Praxis dieser wohl größten infrastrukturellen Maßnahmen im Deutschland des 20. Jahrhunderts nach. Er verweist auf den Ursprung der Idee in den futuristischen Schnellstraßenfantasien. Der erste Streckenabschnitt war, noch in der Weimarer Republik, die Verbindung Köln-Bonn, eine 20 Kilometer lange Fahrtstrecke. Das 1933 begonnene Projekt der Reichsautobahn interessiert Grünbein aber weniger als paramilitärische Zurüstung des Raums. Vielmehr geht es ihm darum zu zeigen, wie der nationalsozialistische Größenwahn beim Autobahnbau in der Sprache des „Dritten Reiches“ inszeniert wurde. Die „schneidig kühnen Bögen“ der Talbrücken, das Naturpathos bei der Anpreisung romantischer Stadtansichten von Autobahnkuppen: das sind die feinen Haarrisse an der Schnittstelle von Mensch und Technik.

Der Dichter als zeithistorischer Reporter

Seine Methode, die Geschichte zur Literatur zu bringen, nennt Grünbein „Photosynthese“. Worte kommen mit Bildern zusammen, mit Postkartenmotiven und Archivfotos: „Die Worte arbeiten an der Überlieferung, die Bilder erreichen uns immer aus einer kleinen Zukunft, die schnell Vergangenheit wird“. Dadurch wird klar: Die Vergangenheit vergeht nicht. Der Dichter ist ihr als zeithistorischer Reporter auf der Spur. So können ihn Taten und Gedanken der Vorfahren leicht einholen. Die emigrierte Philosophin Hannah Arendt kommt 1950 nach Deutschland und beobachtet inmitten der Ruinen, wie sich die Leute Ansichtskarten mit Marktplätzen und Innenstädten schreiben, die es so, also unzerstört, gar nicht mehr gibt.

Solche Erinnerungsorte sind die „Grauzonen morgens“, die der Dichter – seit seinem ersten Lyrikband 1988, der diesen Titel trug – aufsucht. Er zeigt uns, woher wir kommen und dass es Lektionen aus der Geschichte zu ziehen gibt. Wohin wir gehen, sagt er nicht. Ingeborg Bachmann gibt er das vorletzte Wort: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Michael Braun

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur: Oxford Lectures“, Suhrkamp, 176 Seiten, 24 Euro, E-Book: 21 Euro.