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Kommentar

Literatur-Kolumne
Im Gruselkabinett des Doktor Lanz

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Lesezeit 4 Minuten
Applaus für den Schriftsteller Salman Rushdie (M) nach seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche

Applaus für den Schriftsteller Salman Rushdie (2.v.r.) nach seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche

Spaltung, Verfall der öffentlichen Rede: Jede aus dem Ruder laufende Talkshow ist dafür ein Beispiel. Wenn Literatur zum Debattenbeitrag wird.

Der Schriftsteller Robert Musil hat in seinem Romangebirge „Der Mann ohne Eigenschaften“ einen Wirklichkeitssinn von einem Möglichkeitssinn unterschieden. Der Wirklichkeitssinn orientiere sich am festen Rahmen unserer Umgebungen. Wer ihn besitze, sage: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen. Menschen mit Möglichkeitssinn dagegen würden erfinden: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen.

In älteren Tagen blieben die beiden unterschiedlichen Sinne eng aufeinander bezogen. Ein stabiler Wirklichkeitssinn war die Basis für die vielen Fantasien, die dem Möglichkeitssinn entsprangen. Schauen wir aber auf etwas mehr als die vergangenen zwei Jahrzehnte zurück, so erkennen wir schnell, dass es dieses Gleichgewicht nicht mehr gibt. Vielmehr hatten wir es mit lauter Krisen und Katastrophen zu tun, die sich kein Möglichkeitssinn hätte ausdenken können. Es begann mit dem Angriff auf die Twin Towers in Manhattan, setzte sich mit der Pandemie fort und führte schließlich zu den Kriegen in der Ukraine und in Israel.

Spaltungen im Kern der Gesellschaft

Das aber waren und sind nicht nur reale Attacken, die unvorstellbar viele Menschen das Leben gekostet haben, sondern zugleich Anschläge auf den Möglichkeitssinn. Er ist zusammengebrochen, niemand hätte sich vorstellen oder erfinden können, was da – etwa am 11. September 2001 – geschehen ist. Aber auch der Wirklichkeitssinn ist von alledem betroffen. Da der Möglichkeitssinn versagte, geriet auch der Glaube an die Wirklichkeit in Gefahr, und an seine Stelle sind viele imaginäre Glaubensangebote, Fake News und imaginäre Welten gerückt, die jede Basis im Wirklichen verloren haben.

Die Folge sind Spaltungen im Kern der Gesellschaft. Er zerfällt in unendlich viele Atome, in denen jeweils eigene Wirklichkeitskonstruktionen regieren, mit Ersatz- und Fantasiewelten angeblich bedrohlicher Mächte im Hinter- oder Untergrund.

Verfall der öffentlichen Rede

Das hat auch zu einem Verfall der öffentlichen Rede geführt, die von keiner übergeordneten Vernunft mehr zusammengehalten wird. Jede aus dem Ruder laufende Talkshow ist dafür ein Beispiel. Es schreien sich keine politischen Gegner mit mehr oder weniger vergleichbaren Programmen an. Im Gruselkabinett des Doktor Lanz konkurrieren vielmehr imaginäre Monolithe mit grundsätzlich unterschiedlichen Wirklichkeitsvorstellungen.

Früher war eine große Aufgabe der schönen Literatur, die virtuose Gestaltung von Wirklichkeiten mit Hilfe erfundener Möglichkeiten zu betreiben: fabulierend, rhetorisch, kreativ. Doch auch diese lebensnotwendige Verbindung ist derzeit gestört. Das zeigt sich daran, dass selbst die fabulierenden, fiktiven Texte unserer Zeit vor allem darauf hin abgeklopft werden, welche politische Programme sie enthalten oder zu welchen Debatten sie sich verhalten. Solche Fragen zielen letztlich auf die Geister des Erzählens. Um ihr Lebensprofil geht es oft als erstes: Wo stehen sie? Wo dürfen sie stehen? Wer erlaubt ihnen, was zu sagen?

Literatur wird zum Debattenbeitrag

Das trifft ihren Freiheitsgeist und lässt sie zu bloßen Meinungstypen schrumpfen, die man mit journalistisch geschultem Blick vor allem auf tagesaktuell Verwertbares hin abklopft, abfeiert oder wahlweise abfertigt. Dann ist dieser oder jener Roman eben nichts anderes als ein Debattenbeitrag zu einer durch die sozialen Medien hochgezüchteten Kontroverse. Literatur erhält ihre Anerkennung nicht durch ein literarisch fundiertes Urteil, sondern durch die Zahl der Follower, die der Autorin oder dem Autor in die biederen Gefilde einer breitgetretenen Öffentlichkeit folgen.

Was tun? Nüchtern bleiben, aber doch kritisch und schwungvoll. So, wie es Salman Rushdie, der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, in der Stadt der „Frankfurter Schule“ Theodor W. Adornos und Horkheimers beschwor: „Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann.“

Unser Autor

Hanns-Josef Ortheil ist Roman- und Sachbuchautor. In seiner Kolumne befasst er sich damit, wie Geschehnisse aus aller Welt wahrgenommen und gedeutet werden.

Zu seinem eigenen Blog geht es hier.