Die Südkoreanerin Han Kang erreicht mit ihren surrealistischen Romanen vielleicht nicht die Massen, aber ihre Literatur ist eine Klasse für sich.
Literaturnobelpreis für Han KangDie Zartheit und Zerbrechlichkeit des Menschen
Der Buchhändler in der Bücherstraße der südkoreanischen Metropole Busan war sofort im Bilde. Als wir, der Landessprache nicht mächtig, bei unserem Besuch den Namen Han Kang aussprachen, hatte er sogleich eine Auswahl ihrer Bücher parat. Auch wusste er, welchen Titel er uns als literarisches Souvenir ans Herz legen mochte: „Die Vegetarierin“, den Erfolgsroman aus dem Jahr 2007. Da griffen wir gerne zu. Denn dieses Werk ist eine Wucht. Mit ihm gelang Hang Kang der internationale Durchbruch. 2016 gewann der Roman den Man Booker International Prize. Im selben Jahr erschien er in der Übersetzung von Ki-Hyang Lee bei Aufbau. Bislang folgten in dem Berliner Verlag vier weitere Romane von Han Kang.
Nun erhält die Autorin, die 1970 in Gwangju geboren wurde und heute in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul lebt, den Literaturnobelpreis. Die Auszeichnung ist mit einer Million Euro dotiert und wird am 10. Dezember in der Stockholmer Konzerthalle überreicht. Mats Malm, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, verriet bei der Bekanntgabe, dass er Han Kang telefonisch erreicht habe, als sie gerade mit ihrem Sohn zu Abend aß. Und wenn wir Malm richtig verstanden haben, wurde Han Kang von der Nachricht einigermaßen überrascht: „Sie war nicht wirklich darauf vorbereitet.“
Erstmals geht der Literaturnobelpreis nach Südkorea
Das kann man sich selbstverständlich leicht vorstellen. Denn die Auszeichnung geht damit erstmals nach Südkorea (und wieder nicht ins Nachbarland Japan, wo Haruki Murakami als der Ewige Favorit in die Annalen einzugehen scheint). Allerdings richtet sich die internationale Lese-Aufmerksamkeit schon seit einiger Zeit auch auf Südkorea – nicht zuletzt seit der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2005, als dort das fernöstliche Land im Fokus stand.
Ausgezeichnet wird Han Kang „für ihre intensive poetische Prosa, die sich mit historischen Traumata auseinandersetzt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt“, wie es in der Begründung heißt. Ein solches „Trauma“ findet sich in dem Roman „Menschenwerk“ (2014, deutsch 2017), der auf die brutale Niederschlagung des demokratischen Studentenaufstands von 1980 in Gwangju eingeht. Für dieses Buch, in dem eine umherschwirrende Seele das Wort ergreift, erhielt Han Kang den italienischen Malaparte-Preis.
Eine Vegetarierin, die ein Baum werden will
Und die „Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens“ wird in „Die Vegetarierin“ zum Ereignis. Der Roman beginnt mit einem Satz, der das Zeug hat, in die Liste der legendären ersten Sätze einzugehen: „Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar.“ Doch dann ist es vorbei mit dem faden Eheleben an der Seite einer „ganz normalen Ehefrau“.
Denn die Entscheidung von Yeong-hye, kein Fleisch mehr zu essen, kommt einer Revolte gleich. Immerhin sind die Speisezettel in Südkorea bemerkenswert fleischfixiert. Folglich gibt es nicht wenige Versuche, Yeong-hye in die „Normalität“ zurückzuholen. Auch mit Gewalt. Doch vergebens. Sie setzt ihre Überzeugung mit einer Radikalität um, von der man nicht alle Tage hört: Yeong-hye beschließt, ein Baum zu werden.
Schon sind wir mittendrin im asiatischen Surrealismus, den Han Kang vortrefflich beherrscht. Während in der Welt des Haruki Murakami die Außenwelt ins Wanken gerät, ereignen sich bei Han Kang die Verwerfungen im Inneren ihrer Personen. So hatte sie vor der Vegetarierin, die ein Baum werden will, schon einmal eine Erzählung veröffentlicht, in der eine Frau zur Topfpflanze mutiert: Zu den ehelichen Pflichten des Gemahls gehört es dort, diese regelmäßig zu gießen.
Ihre Protagonisten sind Außenseiter
Die Preisträgerin, Tochter eines Schriftstellers, begann ihre Schreib-Karriere im Jahre 1993 mit Gedichten in einer Literatur-Zeitschrift. Zwei Jahre später folgte ein Band mit Kurzgeschichten. Dann das erste große Werk: „Deine kalten Hände“ (2002, auf Deutsch 2019). Ein Künstlerroman um einen Bildhauer und seine Geliebten, der sich auf Gipsabdrücke von Frauenkörpern kapriziert hat. Allemal sind es Außenseiter, wie sie immer wieder im Werk der Südkoreanerin auftreten: Menschen, die nicht in der Masse aufgehen. Der Roman ist ein ruhig erzähltes Kunststück um den Versuch, sich hinter Masken zu verbergen, und um den Schmerz, sich zu häuten und solcherart kenntlich zu werden.
In einem Nachwort schreibt die Autorin, was diese Prosa, die sie eine Weile hatte ruhen lassen und erst nach zwei Jahren wieder aus der Schublade geholt hatte, mit ihr gemacht hat: „Während der zwölfmonatigen Arbeit verging die Zeit in einem anderen Tempo. Der Roman, der in mir wohnte, veränderte mich. Er veränderte meinen Blick, meine Art zu hören und zu lieben. Still brachte er meine Seele an Orte, an denen sie noch nie gewesen war.“
Dass sich Han Kang neben dem Schreiben auch anderen Künsten widmet, wie Anders Olsson vom Nobelpreis-Komitee anlässlich der Verkündung bemerkt hat, lässt sich hier trefflich entdecken. Sie habe ein einzigartiges Gespür für die Verbindungen zwischen Körper und Seele, sagte Olsson weiter, und sei mit ihrem poetischen und experimentellen Stil zu einer Innovatorin der zeitgenössischen Prosa geworden. Dass lässt sich immer wieder entdecken. Auch in ihrem Roman „Griechischstunden“ (2011), der in diesem Jahr in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Darin liefert Han Kang erneut einen angenehm irritierenden Roman um einsame Seelen ab. Es ist die Geschichte einer Annäherung – die einer Frau, die verstummt ist, und eines Mannes, der mehr und mehr erblindet. „Griechischstunden“ ist eine stille Kontemplation über den Verlust. Und es ist eine Feier der Sprache mit all ihren Zeichen und Lauten – im Altgriechischen wie im Koreanischen und gewiss auch im Deutschen.
Das Spektrum der Themen und Töne zeigt: Han Kangs Literatur ist eine Klasse für sich. Mit ihrer Kunst erreicht sie gewiss nicht die Massen, die die K-Pop-Stars ihrer Heimat zu mobilisieren verstehen. Doch als fernöstliche Attraktion darf ihr Werk, in dem die Zartheit und Zerbrechlichkeit des Menschen dominieren, ganz gewiss gelten. Mag die Nobel-Entscheidung für Han Kang auch eine Überraschung sein, so ist die Südkoreanerin allemal würdig, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet zu werden.