Filmfestival LocarnoHätte das ein Mann gedreht, wäre er ausgepfiffen worden
Locarno – Starke, selbstbewusste Frauen haben im Kino Konjunktur. In Locarno waren sie zur 75. Jubiläumsausgabe als Regisseurinnen besonders stark repräsentiert, und vor der Kamera werden sie immer jünger und mutiger gemessen an dem, was sie verkraften müssen.
Den internationalen Wettbewerb überragte das Coming-of-Age Drama „Tengos sueños electricos“ aus Costa Rica von Valentina Maurel, die für ihr scharfsichtiges Psychogramm einer 16-Jährigen zwischen aufkeimender Sexualität, Rebellion und dem Drang nach Selbstbestimmtheit den Regiepreis gewann.
Mit großer Reife lotet Daniela Marín Navarro, verdient ausgezeichnet als beste Hauptdarstellerin, die komplexen Facetten dieser Eva aus, die seit der Scheidung der Eltern an Alpträumen leidet, in denen sich die Unbeherrschtheit des Vaters widerspiegelt. Bei der Mutter, die ihre Katze nicht mehr duldet, weil sie verstört überall hinpinkelt, will sie nicht bleiben. Aber beim Vater (bester Darstellerpreis: Reinaldo Amien Gutiérrez), dessen Gewalttätigkeit die junge Frau unterschätzt, lebt es sich nicht besser.
Furchteinflößende Klosterschwestern
Fast noch gespenstischer erscheint Ruth Maders österreichischer Beitrag „Serviam- ich will dienen“, der den von der Außenwelt unbemerkten Horror in einem katholischen Mädcheninternat entlarvt. Die leitende Klosterschwester, furchteinflößend von Maria Dragus verkörpert, stiftet ihre Zöglinge zu lebensgefährlichen Selbstverletzungen an und versteckt sie dann ohne ärztliche Hilfe in einem leerstehenden Stock. Von den Eltern, die alle Alarmsignale ignorieren, erwächst den Kindern keine Hilfe. Nur die 12-jährige Sabine stellt sich der Psychopathin mutig in den Weg.
Streng kadrierte Bilder von kalten, sterilen Innenräumen, subtile Blicke, sparsame Dialoge und ein düsterer Soundtrack korrespondieren mit der unfassbaren stillen Grausamkeit in diesem Film, der einen der Hauptpreise verdiente, aber nur mit einem dritten Preis der Jugendjury gewürdigt wurde.
Goldener Leopard für Julia Murat
Den Goldenen Leopard für den besten Film gewann überraschend der brasilianische Beitrag „Regra 34“ von Julia Murat, das provokante Porträt einer Rechtswissenschaftlerin, die sich leidenschaftlich für Frauen in Missbrauchsfällen engagiert, sich selbst aber mit sadomasochistischem Sex erniedrigt. Nicht auszudenken, wie diese Geschichte als sexistisch ausgepfiffen worden wäre, wenn sich ein Mann erkühnt hätte, sie zu erzählen, dies auch im Hinblick auf einige pornografisch angehauchte Szenen.
Einer Frau wird demnach die Akzeptanz gewaltsamer Übergriffigkeiten zugestanden, sofern sie in gegenseitigem Einvernehmen erfolgt, auch wenn das am Ergebnis des Films nichts ändert.
Vielleicht erklärt das auch, warum „Gigi la legge“, Alessandro Comodins Porträt eines Verkehrspolizisten, in seinem erotischen Charme weitaus dezenter ausfällt. Dieser Gigi kurvt in seinem Wagen, meist allein, manchmal aber auch in Begleitung, durch die ländliche Provinz, wo meist kaum etwas passiert.
Subtil geflirtet
Mit einem ganz eigenen unaufdringlichen Charme nutzt er die Zeit, um mit der Stimme von Kolleginnen, die ihn über das Handy kontaktieren, subtil zu flirten. Anzügliches kommt ihm dabei nie über die Lippen, als Galan alter Schule sagt er seiner Kollegin vielmehr nur, dass sie eine schöne Stimme hat oder erzählt vom Duft der Zutaten, mit denen er sich ein leckeres Essen zubereiten wird, zu dem sich die Gesprächspartnerin gerne auch einmal selbst einlädt.
Der Spezialpreis der Jury für einen so leisen, unspektakulären Film überraschte. Eher hatte man den Protagonisten Pier Luigi Mecchia auf dem Schirm, der kraft seiner großen Ausstrahlung ein würdiger Kandidat für den Darstellerpreis gewesen wäre.
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