Der Musiker und Entertainer Alabaster DePlume probt kollektive Selbstermächtigung live und auf Platte.
Der Star der Londoner Jazz-SzeneSehnsuchtsraum mit Saxofon

Alabaster DePlume
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„Wo bist du mit deinem Herzen, Frank?“ möchte mein Gegenüber im Zoom-Chat gleich einmal wissen. Es ist das dritte Mal in den letzten drei Jahren, dass ich mit Gus Fairbairn spreche, ich kenne das Ritual der Erkundung von Befindlichkeiten und Stimmungen, das er seinen Interviews gerne voranstellt und antworte: „Ich schenke dir mein Herz - für die Dauer dieser Unterhaltung.“ Gus bedankt sich freundlich und erzählt, dass er von einem Auftritt auf der Isle Of Eigg vor der schottischen Westküste zurückgekehrt sei, morgen stünde eine Show seiner Band auf dem von Gilles Peterson kuratierten „We Out Here“-Festival an, und ach, heute Abend praktiziere er endlich wieder Jiu Jitsu. „Ich bin so glücklich, Frank.“
Gus Fairbairn weiß um den Charme und die irritierend-beseelte Aura, die er auf Bühnen und in Gespräche bringen kann. Er hat sich unter dem Alter Ego Alabaster DePlume einen Namen weit über die Londoner Jazzszene hinaus gemacht, die er mit seinen Shows so gewinnend umhegt – als Saxofon-Autodidakt, Sänger, Dichter, Entertainer. Nicht zuletzt als Zeremonienmeister von Spontankunstwerken, in denen er mit Publikum und Band fortwährend interagiert.
Gus Fairbairns ehrlicher Song „Naked Like Water“
Voraussetzung: Wir sind bereit, uns ehrlich zu machen. „Naked Like Water“ hat er einen Song auf seinem in ein paar Tagen erscheinenden neuen Album „Come With Fierce Grace“ betitelt, ein wimmernder Saxofon-Ton erobert den Klangraum, Drums, Bass und ein Gitarrenmotiv folgen, wir hören Sängerin Donna Thompson spitz schreiend, später fast jodelnd. Eine Momentaufnahme, meint Alabaster Plume, „sie ist so ergriffen von der Musik, sie ist offen für Entdeckungen, die ihr Selbst betreffen, sie übernimmt den Leadgesang. In dem Moment, da sie das tut, habe ich meinen Job gut gemacht.“
Alabaster DePlumes Shows kommen einem sozialen Experiment gleich, in dem die Wirkmacht von Selbstermächtigungsprosa geprobt wird. Was er da auf der Bühne so raushaut, wären ratgeberverdächtige Lifestyle-Slogans, würden sie nicht von humoristischen, aber garantiert ironiefreien Selbsthinterfragungen umrandet: „Don't Forget You're Precious“, „Be Nice To People“ oder „Go Forward In The Courage Of Your Love“. Dem Publikum ruft er auch schon mal ein „You're doing very well“ zu und dann kommt ein „Du auch“ zurück.
Alabaster DePlume mit neuem Album „Come With Fierce Grace“
Einen Selfmade-Humanisten wie ihn hätte kein PR-Stratege erfinden können. Das gilt auch für die Musik, die der Brite in unterschiedlichen Vereinsgrößen erschafft: saxofonisierte Sehnsuchtmelodien, die über Jazz-, Folk- oder Ambientgrundierungen tänzeln und allenfalls an die flirrenden Klänge des Äthiopiers Gétatchèw Mèkurya erinnern dürften, elektrisiert von Gitarren aus der Psychedelic-Rock-Ära und dem Räuspern der Synthesizer. Das Album „Come With Fierce Grace“ ist jetzt nach der hochgelobten Doppel-LP „Gold“ aus dem vergangenen Jahr die zweite Songsammlung, mit der Alabaster DePlume aus den mehrtägigen, weitgehend improvisierten Sessions im Londoner „Total Refreshment Center“ schöpft.
Geprobt wurde absichtlich so gut wie gar nicht, einzig das Tempo des Vortrags war vorgegeben. 17 Stunden hatte der Bandchef nachher aufgezeichnet, daraus montierte er die intensivsten Momente zu Songs zusammen. Die 20-köpfige Belegschaft, ein Mix aus Multiinstrumentalisten und Alleskönnern, Amateuren, befreundeten Jazz-Freigeistern und jungen Talenten, lud er ein, eigene Vorstellungen und Stimmungen in die Sessions zu bringen. „Das neue Album ist jetzt eine Sammlung von Stücken geworden, die unaufgefordert in dem Raum aufschlugen, in dem wir interagierten. Ich war darauf vorbereitet, nicht vorbereitet zu sein. Ich weiß, dass du mir Dinge zeigen kannst, die ich noch nicht kenne“, so erzählt Fairbairn mit hörbarer Freude von der offenen Ausrichtung seines Orchesters.
Der Jazz-Star arbeitete mit der Sängerin Momoko Gill zusammen
Vorab veröffentlicht hatte Alabaster De Plume diesmal den Song „Did You Know“, in dem die Sängerin Momoko Gill, die live im Kölner Club „Bumann & Sohn“ vor ein paar Monaten noch am Schlagzeug der Band saß, ihre Interpretation von zwei Songs vom Vorgänger „Gold“ mit den von ihr erweiterten Lyrics vorträgt – im Overdub in ihrem eigenen Studio fertiggestellt. Was jetzt in dem Song „Did You Know“ vorliegt, ist Reinterpretation und Quasi-Remix aus dem Orchesterraum zugleich. „Es ist absolut erstaunlich, was sie da macht“, jubelt Alabaster DePlume.
Der Jubel hat beim 42-jährigen Künstler immer auch etwas Rückblickendes. Er musste lernen, sich selbst zu feiern, aus sich herauszugehen, eigene Ängste und Unsicherheiten aus den wüsten Tagen in der jugendlichen Peer Group zu verarbeiten, erst auf den Bühnen von Poetry-Slams und Open-Mic-Nights in Manchester. Später als Straßenmusiker mit Gitarre und Saxofonist in Kneipen. Seine Selbstfindung in der Musik verwandelte er in das Selbsterforschungstheater in den Clubs und Bars.
Seinen Durchbruch erzielte DePlume mit „To Cy & Lee“
Den Durchbruch erzielte Alabaster DePlume 2020 aber erst einmal mit dem Instrumentalalbum „To Cy & Lee“, dem sich das US-Hipster-Label International Anthem angenommen hatte. Gewidmet waren die in den Jahren zuvor entstandenen Songs zwei Menschen mit Handicap, die der Künstler durch seine Arbeit in der Wohltätigkeitsorganisation „Ordinary Lifestyles“ kennengelernt hatte. In den Treffen mit Cy und Lee entstanden die Melodien, die seinen Songs soviel Wärme und Strahlkraft verleihen, erzählte Alabaster DePlume einem staunenden Publikum. Gesang wurde in diesen bisweilen nostalgieseligen Stücken gar nicht vermisst, das Vibrato, das Alabaster DePlume dem Saxofon entlockt, tritt an die Stelle einer menschlichen Stimme. Das musikalische Bilderwerk hatte längst die Umarmung der Welt in Angriff genommen.
Die Songs auf den beiden letzten Alben „Gold“ und „Come With Fierce Grace“ verbinden sich zu einer sanft fließenden Hymne auf die transformative Kraft der Popmusik, die hier aber jederzeit in schroffes, freies Spiel umschlagen kann. Der kollektive Improvisationsraum schenkt dieser Musik den Impuls zu Aufbruch und Veränderung. Alabaster DePlumes Musik ist eine Einladung an uns alle, jetzt in dieses Kollektiv einzusteigen. „Ich spiele jeden Tag mit einer anderen Band. Möchtest du mit mir spielen?“, fragte er mich im Interview 2022.
Zu Album und Veranstaltung
„Come With Fierce Grace“ ist am 8. September auf dem Label International Anthem erschienen.
Alabaster DePlume spielt am 4. November auf dem Week-End Festival in Köln. Das Festival geht vom 2. bis zum 4. November im Stadtgarten.