Stephan Kalinski von „Fairy Tales Retold“ schreibt Märchen um. In seinem neuesten Kinderbuch verliebt sich Aschenputtel in eine Prinzessin.
Märchen neu erzähltWer ist die Mutigste im ganzen Land?
Aschenputtel reitet in einer Kürbis-Kutsche zum Schloss. So weit, so bekannt. Das Kinderbuch-Projekt „Fairy Tales Retold“ hat aber eine entscheidende Änderung in die Geschichte eingebaut: die Märchenfigur verliebt sich nicht in einen Prinzen, sondern in eine Prinzessin.
Weitere Änderung fallen auf: Aschenputtel hat eine schwarze Stiefmutter und zwei Stiefbrüder, die allesamt fürsorglich miteinander umgehen. Bösewicht ist also nicht die Stiefmutter, sondern ein Herzog, bei dem Aschenputtel schwer schuften muss. Auf dem Fest am Hof ist sogar eine kleine Pride-Flag zu sehen. Und was Aschenputtel braucht, um ihre Probleme zu lösen, bekommt sie nicht durch die Hand eines adligen Mannes. Es liegt vielmehr von Anfang an in ihrem Inneren.
„Aschenputtel“ ist das zweite Buch von „Fairy Tales Retold“
Urheber dieser Geschichte sind nicht Disney oder die Brüder Grimm, sondern Stephan Kalinski und sein Projekt „Fairy Tales Retold“. 2019 haben sie bereits „Schneewittchen“ neu erzählt. „Aschenputtel“ ist das zweite Kinderbuch, das sie Ende 2022 über Crowdfunding finanzieren konnten.
Doch warum die alten Geschichten neu erzählen? Die Idee dazu kam Kalinksi, als er seiner Tochter die klassische Version von Schneewittchen vorlas. „Ich dachte: Wenn ich fünf bin, was nehme ich aus der Geschichte mit? Warte auf den Prinzen und kümmere dich um dein Aussehen.“ Also begann er beim Vorlesen aus der „Schönsten“ die „Mutigste“ im ganzen Land zu machen, um die Figur aktiver und stärker zu gestalten. „Ich fand es faszinierend, was ein Wort alles ausmacht.“
Stephan Kalinski will Märchen inklusiver machen
Zudem beschäftigte es Kalinski, dass viele Menschen sich in den alten Geschichten nicht mehr wiederfinden. „Der beste Freund meines Sohnes hat zwei Mütter. Ich habe zu Hause kein Buch, das seine Familie visuell darstellt. Und da dachte ich, vielleicht kann Aschenputtel sich in eine Prinzessin verlieben.“ Das Fest, das Aschenputtel besucht, wird zur inklusiven Utopie umgestaltet. Dort finden sich Kulturen aus aller Welt, ein Kind mit Rollstuhl und eine Pride-Flag als Banner.
Es gibt aber kulturelle Denkmalschützer, für die solche Änderungen problematisch sind. Diese hat auch schon der Regisseur George Lucas kennengelernt, als er Hand an die alten Star-Wars-Filme legte und mit neuen Spezialeffekten den Film aufhübschen wollte, aber auch ganze Szenen veränderte. Das war ein Sakrileg für viele Fans.
Disneys Neuverfilmung von „Arielle, die Meerjungfrau“ zog viel Ablehnung auf sich
Doch da ging es nur um den Film, um Nostalgie und um die Wertschätzung eines Kunstwerks in der Form, in der man es zuerst kennengelernt hat. Als Disney einen neuen Arielle-Film mit der schwarzen Schauspielerin Halle Bailey besetzte, stieß dies eine gesellschaftliche Debatte an. Die sozialen Medien waren in klare Lager gespalten. Einerseits protestierten einige User gegen die Neubesetzung der ikonisch-rothaarigen Meerjungsfrau mit einer schwarzen Schauspielerin. Andererseits teilten Familien Videos mit ihren Kindern, die sich über eine schwarze Arielle gefreut haben.
Bei Winnetou wiederum trat der gegenseitige Fall ein. Der Ravensburger Verlag brachte parallel zum Start des Kinofilms „Der junge Häuptling Winnetou“ ein begleitendes Buch heraus. Es gab eine Debatte darüber, ob man die gleichen rassistischen Klischees aus alten Karl-May-Büchern in neuen Projekten weiter reproduzieren sollte. Der Verlag zog das Buch wieder zurück, der Film lief in den Kinos. Am Ende waren sowohl die Denkmalschützer unzufrieden, die Cancel Culture witterten, als auch diejenigen, die einen modernen Umgang mit dem alten Stoff forderten.
Ein kreativer Umgang mit alten Stoffen hat Tradition
Stephan Kalinksi lässt sich klar einem dieser Lager zuordnen. Er begrüßt es, dass Schneewittchen in seiner Familie zu einer Referenz für Mut geworden ist. „Da haben wir wirklich gemerkt, was für eine Auswirkung die Märchen auf Kinder und die Gesellschaft haben. Warum nicht diese Märchen als ein Tool nutzen, um zeitgemäße Ideen zu vermitteln?“
Den kreativen Umgang mit alten Stoffen gibt es schon so lange, wie Geschichten erzählt werden. Der mittelhochdeutsche „Parzival“ von Wolfram von Eschenbach etwa ist eine Überarbeitung einer französischen Vorlage (wie die meisten Ritterromane des Mittelalters). Wagner wiederum veränderte für seine Oper „Parsifal“ die Geschichte auf eine Weise, die kaum in Wolfram von Eschenbachs Sinne gewesen wäre. Selbst der allseits geliebte Faust Goethes hat einen reformatorischen Vorgänger in der „Historia des Johann D. Fausten“.
Schon Disneys „Cinderella“ zeigt deutliche Änderungen zum Grimmschen Original
Auch bei Märchen gibt es meistens eine Bandbreite an Variationen. Im ursprünglichen Schneewittchen-Stoff muss die Stiefmutter am Ende mit glühenden Schuhen tanzen, bis sie stirbt; und eine von Aschenputtels Stiefschwestern schneidet sich die Zehen ab, um in den Glasschuh zu passen. Diese Brutalität findet man im Disneyfilm „Cinderella“ nicht mehr. Trotzdem war das Abmildern der Stoffe bisher kein Streitpunkt. Mit einer sich veränderten Sicht auf Kinder und ihre Schutzbedürftigkeit haben sich auch unsere Geschichten verändert.
Und die Märchenvariante des alten tschechisch-ostdeutschen Films „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ avancierte trotz Änderungen zum Weihnachtsklassiker. Dieser zeigt bereits eine starke und aktiv handelnde weibliche Hauptfigur, auch wenn sie letzten Endes immer noch auf die Gunst eines Mannes angewiesen bleibt.
Bereits bekannte Charaktere lassen sich besser vermarkten
Wenn also aus modernen Anpassungen nur dann ein Problem gemacht wird, wenn es um Diversität geht, liegt es nahe, dass es nicht unbedingt um eine zu erhaltene Originalität geht, die es so bei Märchen ohnehin nicht gibt. Im harmlosesten Fall zeigt sich darin ein Festhalten an dem, was man kennt, zum Beispiel aus Nostalgie. Im schlimmsten eine Ablehnung dessen, was man nicht kennt. Dann wird die reine Existenz eines lesbischen Aschenputtels zum Problem gemacht.
Warum ist es aber wichtig, dass man bereits etablierte Figuren und Geschichten umschreibt, anstatt neue zu erfinden? Gerade bei Disney könnte man unterstellen, dass eine Neuverfilmung eines bekannten Stoffes ein finanziell geringeres Risiko darstellt. Auch Kalinski gibt offen zu, dass sich eine bekannte Figur für ihn leichter vermarkten lässt. „Man muss den Leuten keinen neuen Charakter erklären oder verkaufen. Das macht es natürlich einfacher. Das ist durch Zufall entstanden, aber das zu leugnen wäre Quatsch. Wir sehen das aber als Chance. Diese Geschichten gibt es, wird es immer geben. Lass uns doch gucken, ob man die positiv weiterentwickeln kann.“
In erster Linie kann man Bücher wie die von „Fairy Tales Retold“ als Ergänzung sehen. Die Grimm'schen Märchen sind immer noch gut überliefert und verschwinden nicht, nur weil jemand neue Geschichten aus diesen Stoffen spinnt. Ob man jetzt das zehnte Remake alter Disney-Klassiker sehen muss, bleibt einem ja selbst überlassen. Wenn man seinen Kindern aber eine Geschichte vorlesen will, bei der man das N-Wort nicht rauskürzen muss, gibt es dafür heutzutage Alternativen.
Aschenputtel. Von Stephan Kalinski & Iain Botterill. Mit Illustrationen von Claudia Piras. Ab 4 Jahren. 64 Seiten, 24,95€.
Zur Person
Stephan Kalinski ist ein Kinderbuchautor aus Berlin. Gebürtig aus Stralsund, ist er in Leipzig aufgewachsen und studierte in Los Angeles. Nebenbei arbeitet er als Consultant und macht das Schreiben zunehmend zu seinem Hauptberuf. In London hat er den Geografielehrer Iain Botterill kennengelernt, mit dem er „Fairy Tales Retold“ ursprünglich als Hörbuch konzipierte.