Kommentar zur DiversitätBehauptete „Normalität“ verhindert Zukunft in Deutschland
Köln – Vielfalt, seien wir ehrlich, ist anstrengend. Die sprichwörtliche „Qual der Wahl“ bringt diese Erfahrung zum Ausdruck. Auch die auffallend hitzigen Diskussionen über Diversität in der Gesellschaft oder gendergerechte Sprache spiegeln das Gefühl vieler Menschen, dass Vielfalt ihnen das Leben schwer macht – so oder so.
„Auf wie viele Grüppchen und Minderheiten soll ich eigentlich noch Rücksicht nehmen müssen?“, hieß es jüngst sinngemäß in einem Leserbrief, dessen Autor sich zu betonen beeilte, er sei durchaus ein toleranter Mensch. Vielfalt als Überforderung?
Fehlgeleitete Debatte
Die Leserfrage ist der Indikator für eine fehlgeleitete Debattenlage. Es kann nicht darum gehen, die Anerkennung von Vielfalt zu erzwingen, sondern Vielfalt als die Lebensform erkennbar werden zu lassen, die uns am ehesten entspricht und die uns als Individuen und als Gesellschaft weiterbringt. Dass Diversität in Unternehmen ein messbarer Faktor wirtschaftlichen Erfolgs ist, ist nur ein Teil dieses Werbens für Diversität.
Natürlich geht es bei der Anerkennung unterschiedlicher ethnischer, geschlechtlicher, religiöser Prägungen und anderer Orientierungen auch um einen moralischen Anspruch derer, die allzu lange übersehen, marginalisiert, ausgegrenzt und diskriminiert wurden. Auch da hilft es, sich den Sprachgebrauch bewusst zu machen: Unter „divers“ wurde gemeinhin alles subsumiert, was nicht eigens Beachtung fand. Aber wer von uns will schon unter „Sonstige“ landen, unter „ferner liefen“? Wir alle wollen gesehen, beachtet, wertgeschätzt werden – in unserer Verschiedenheit.
Deutschland. Aber normal?
Dass die Kehrseite ihrer Geringschätzung immer die mit Deutungshoheiten und Gestaltungsmacht verbundene Selbstbehauptung einer (vermeintlichen) Mehrheit ist, gehört zur kritischen Selbstreflexion einer demokratischen Gesellschaft. Aber sie verliert dadurch nicht, sondern sie gewinnt.
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Ein Wahlslogan wie „Deutschland. Aber normal“ (hier lesen Sie mehr) ist deshalb ein Zukunftverhinderungsprogramm, ein Aufruf zu Denkfaulheit, Bequemlichkeit und Realitätsverweigerung. Die behauptete „Normalität“ ebnet ein, walzt alles platt, was unser Land braucht, um die großen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen bestehen zu können: das Ausgefallene, das Ungewöhnliche und Unerhörte, das Herausragende, das Exzeptionelle.
Kölsche Urväter und -mütter
Das römische Imperium, sagen Historiker, war über Jahrhunderte hinweg so erfolgreich, weil es Fremdheit gelten lassen und sich das Andersartige aneignen konnte. Mit dieser Kultur der Diversität avant la lettre ist man dann schon fast beim „kölschen Stammbaum der Bläck Fösss“ mit den Urvätern und -müttern der rheinischen Toleranz aus „Caesars Legion“.
Der Sinn für Vielfalt ist ein Erfolgsgarant, er bewahrt vor Monotonie und Betriebsblindheit, konterkariert Dominanzfantasien und Hegemoniestreben. Vielfalt ist anstrengend, ja. Aber Vielfalt ist auch ein Schatz. Und sie ist schön.