Marcel Odenbach zeigt bei Gisela Capitain eine leise Arbeit zur schrillen deutschen Debatte um Antisemitismus. Auch sonst lohnt der Besuch.
Marcel Odenbach in KölnWarum seine neue Arbeit ein Ausdruck der Verzweiflung ist
Im Dezember 1961 veröffentlichte die Kölner Zeitschrift „Twen“ einen Reisebericht der US-Autorin Mary Lee Meyersohn. „Eine Jüdin sieht Deutschland“ stand auf dem Magazintitel, und die Redakteure dürften geahnt haben, dass Meyersohns wenig schmeichelhafter Eindruck von den Deutschen empörte Reaktionen der Ewiggestrigen provozieren würde. Womit sie hingegen nicht gerechnet hatten, waren die vielen Zuschriften von Lesern, bei denen der Antisemitismus unter der Oberfläche einer scheinbar aufgeklärten Bürgerlichkeit schwelte: „Ich habe gar nichts gegen Juden, aber…“
Als Reaktion druckte „Twen“ ausführliche Antworten auf einige dieser „grauen Briefe“ ab. „Was ist mit den Juden?“, lautete dieses Mal die Titelzeile, daneben stand das Porträt von Israels Premierminister David Ben-Gurion. Diese Episode der deutsch-jüdischen Publizistik ist längst vergessen, selbst bei den treuen Lesern von „Twen“, das sich damals als Sprachrohr eines anderen, jüngeren Deutschlands verstand. Auch Marcel Odenbach staunte nicht schlecht, als er 2016 in einer Kölner Ausstellung die Doppelseite mit Ben-Gurion entdeckte. „Twen“ gehörte zu seiner Jugend, allerdings begann diese für den 1953 geborenen Kölner Künstler erst in den späten Sechzigern.
Odenbach fotografierte das Exponat (wofür er, wie er sagt, aus der Ausstellung geworfen wurde) und verleibte das Motiv seinen „Schnittvorlagen“ ein - das Bilderarchiv, aus dem er die Vorlagen für seine großformatigen Papiercollagen schöpft. Lange habe er nicht gewusst, so Odenbach, wie er mit seiner Entdeckung umgehen solle. Nach dem Überfall der Hamas auf Israel, dem Einmarsch Israels in Gaza (und den teils antisemitischen Reaktionen darauf), schien die Zeit dann reif zu sein.
Das Gesicht David Ben-Gurions besteht unter anderem aus judenfeindlichen Karikaturen
Jetzt hängt die „Twen“-Doppelseite im Format 150 mal 212 Zentimeter an einer Wand der Kölner Galerie Gisela Capitain. Wie bei allen Papiercollagen Odenbachs muss man nahe herantreten, um die darin verborgene Botschaft (oder die tiefere Wahrheit) zu verstehen. Marcel Odenbach setzt seine fotorealistischen Motive aus kleinen, eingefärbten Zeitungsausrissen und Buchschnipseln zusammen, deren Inhalte eine versteckte Bedeutungsebene ergeben. Das Gesicht Ben-Gurions besteht unter anderem aus judenfeindlichen Karikaturen, Goebbels-Porträts des jüdischen Künstlers Stephane Mandelbaum, „harmlosen“ Bildern des Nachkriegsalltags und Aufnahmen von Neonazi-Aufmärschen.
Odenbach wurde als Pionier der Videokunst bekannt, mit Arbeiten, in denen er die Bilderproduktion der Massenmedien kritisch beleuchtete. Seitdem misstraut er lauten Botschaften genauso sehr wie eindeutigen Wahrheiten. Seine „Twen“-Collage nennt er einen „Ausdruck der Verzweiflung“, und doch bleibt er darin seinem Arbeitsethos treu. Es ist eine leise, reflektierte Arbeit in einer von lautem Geschrei geprägten Debatte, aber auch eine, die sich nicht scheut, ein wenig schmeichelhaftes Deutschland-Bild zu zeigen. Offenbar war für Odenbach die Zeit der „grauen Briefe“ nie vorbei oder sie lebt für ihn gerade wieder auf. Seine Collage zeigt eine deutsche Vorstellung vom „Juden“, die sich weiterhin aus dem Bilderkosmos der NS-Zeit zusammensetzt und wie selbstverständlich zur deutschen Normalität gehört.
Das Fortleben der NS-Vergangenheit gehört zu Odenbachs großen Themen
Andere Arbeiten der Ausstellung variieren ebenfalls eines der prägenden Themen im Papierwerk Marcel Odenbachs: das Fortleben der NS-Vergangenheit. Zwei neue Großformate gehen auf Aufnahmen zurück, die in der Villa Marlier, Schauplatz der „Wannsee Konferenz“, gemacht wurden. Sie zeigen idyllische Porzellankacheln und Gartenblicke, die ihre weiße Unschuld durch die im Hintergrund ausgebreiteten Auszüge aus NS-Protokollen zur „Endlösung“ verlieren. Vergleichsweise harmlos wirkt dagegen die Dekonstruktion unserer Italiensehnsucht. Odenbachs „Bella Italia“ zeigt eine Häuserwand mit (seitenverkehrtem) Mona-Lisa-Graffito, achtlos weggeworfenem Müll, einem „falschen“ Klappaltar mit Wasserrohren statt Heiligen und „dahinter“ Bilder des seit Fellini sprichwörtlich gewordenen süßen Lebens.
Müll ist das zweite Generalmotiv der Ausstellung. Man begegnet ihm als Elektroschrott an einem Palmenstrand in Ghana (hier geht es um europäische Müllexporte als neue Form kolonialer Ausbeutung) oder als Haufen ausgebrannter Knallkörper, mit denen Odenbach auf die Randale migrantischer Jugendlicher in der Silvesternacht 2022/23 reagiert. Der Werktitel „Wir lassen es krachen“ bezieht sich allerdings eher auf die politischen Parteien, denen die Ausschreitungen gerade recht kamen, um Ressentiments gegen Migranten im Allgemeinen zu schüren.
In gewisser Hinsicht ähneln Odenbachs Collagen den Arbeiten Thomas Bayrles, auf denen ebenfalls viele kleine Bilder ein großes, oftmals mit politischer Bedeutung aufgeladenes ergeben. Doch während Bayrle einer seriellen Maschinenästhetik huldigt, ist bei Odenbach alles von Menschen handgemacht. Seine Bilder sind Ausdruck privater Erinnerungen, die sich buchstäblich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit überlagern und eine zeitgemäße Form der Feinmalerei ergeben. Im 19. Jahrhundert drückten sich die Besucher der Kunstsalons an ungemein detailreichen Gemälden die Nasen platt. Heute an den Bildern, die in Odenbachs Collagen stecken.
„Marcel Odenbach: Ab wann gab es kein Zurück mehr“, Galerie Gisela Capitain, St. Apern Str. 26, Köln, Di.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 11-18 Uhr, bis 25. Januar 2025