Marina Weisband kommt zur phil.Cologne. In ihrem neuen Buch zeigt sie, wie wir die Schulen und damit die Demokratie stärken können.
Marina Weisband„Ich will das Bildungssystem von unten her verändern“
Frau Weisband, in Ihrem Buch diagnostizieren Sie der Demokratie eine Krise – warum?
In diesem Land ist etwas ins Rutschen gekommen: Wir haben massive Umfragewerte für eine antidemokratische Partei. Wir haben sehr starke populistische Tendenzen, immer mehr Lokalpolitiker*innen und Journalist*innen werden angegriffen auf offener Straße. Und wir haben viel mehr Gewalt in der politischen Auseinandersetzung.
Haben die Sozialen Medien etwas damit zu tun?
Die sozialen Medien verstärken das und werden von antidemokratischen Akteuren gezielt genutzt. Und natürlich verstärken die Sozialen Medien auch die reißerischen, die wütend machenden Überschriften. Aber der Grund für die Krise der Demokratie liegt in einer Vertrauenskrise gegenüber politischen Institutionen. Und in den Angriffen antidemokratischer Akteure aus dem In- und Ausland, die diese Vertrauenskrise nutzen.
Warum, glauben Sie, vertrauen die Menschen den politischen Institutionen nicht mehr?
Menschen spüren, dass die Politik auf die drängendsten Fragen unserer Zeit nicht wirklich Antworten hat. Zum Beispiel merken wir, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Wir bemerken, dass die Klimakatastrophe kommt, dass wir viel mehr Migration haben werden, dass wir zerbrechlichere Lieferketten haben. Und dass es von Seiten der Politik keine Antwort gibt, wie wir diese Krisen meistern können, ohne Wohlstand zu riskieren.
Ohne Wohlstand zu riskieren – ist das denn überhaupt möglich?
In dem Moment, in dem es Zumutungen gibt, in dem Moment, in dem Institutionen sagen: Jetzt werden magere Zeiten kommen – dann schwindet das Vertrauen. Aber nein, ich glaube nicht, dass wir diese Krisen lösen können, ohne Wohlstand zu verlieren. Ich glaube aber, man kann diesen Verlust gerechter verteilen. Denn im Moment leiden unter den Krisen vor allem die ärmsten Menschen. Je ärmer ich bin, desto weniger Gewicht haben meine Interessen in der repräsentativen Demokratie. Und das ist eine große Schwäche, die leider extrem rechte Akteure für sich ausnutzen.
Andererseits lehnen Sie auch diese Erzählung „Die da oben machen ja ohnehin, was sie wollen“ ab...
Genau, denn „die da oben“ sind ja kein Monolith. Und Politiker gehören ironischerweise nicht unbedingt zu den reichsten Menschen. „Die da oben“ und „Wir hier unten“ ist eine Trennung, die tatsächlich gerade unterrepräsentierte Menschen künstlich schwächt. Denn die Demokratie sind wir alle. Und wir alle haben die Kraft und Rechte, eine faire Gesellschaft zu gestalten und einzufordern. „Wir alle zusammen“ ist eine Erzählung mit so viel mehr positiver Kraft als „die da oben“ und „wir hier unten“.
Haben Sie Verständnis dafür, dass Menschen mit stressigen Jobs oder kleinen Kindern nicht abends noch in den Stadtrat oder am Wochenende an irgendwelchen Infoständen rumstehen wollen?
Ich erlebe das zum Beispiel mit bei Krankenpfleger*innen. Die sind so überarbeitet, dass sie gar keine Kraft mehr haben, streiken zu gehen. Aber das ist ein Kreislauf, der am Ende krank und unglücklich macht. Erlernte Hilflosigkeit, aus der wir uns befreien müssen. Wir sind viel glücklicher, wenn wir uns nicht als Individuum begreifen, das sich jeden Morgen zur Arbeit schleppt und jeden Nachmittag nach Hause. Sondern als Gemeinschaft, die wirklich die Gesellschaft gestaltet und für sie verantwortlich ist.
Sie arbeiten mit dem „aula“-Projekt an Schulen – haben Sie eine Erklärung dafür, dass Ihnen jede*r Politikerin*in erzählt, wie unglaublich wichtig Bildung ist. Die Wirklichkeit an Schulen und Kitas aber das Gegenteil beweist.
Einfach nur zu erzählen, wie wichtig Bildung ist, kostet nichts. Doch sobald es um die Haushaltsdebatte geht – also da, wo es wirklich drauf ankommt, da wo die Mittel verteilt werden – schneidet die Bildung schlecht ab. Es gibt also einen Grund, warum wir kein Geld haben, um Schulklos zu sanieren: Das Geld ist nicht da, weil es für andere Dinge ausgegeben wird. Wir bezuschussen Kerosin, aber wir investieren nicht mehr Geld in Bildung. Außerdem meinen wir nicht alle dasselbe, wenn wir von Bildung sprechen.
Was denn zum Beispiel?
Unter „Bildung“ verstehen viele Menschen dieses Belehrt-werden. Und das ist eigentlich schon an sich eine verquere Zielsetzung. Die widerspricht zum Beispiel auch der Rolle von Schule als Betreuungsanstalt, weswegen die Schule um acht Uhr morgens beginnt. Eine Zeit, in der sich die meisten Jugendlichen nur sehr schlecht Mathe in den Kopf prügeln können. Dann soll die Schule aber auch noch für die Sozialisierung und Erziehung der Kinder da sein. Und das widerspricht diesem vollgestopften Curriculum. Schule ist also mit sehr, sehr vielen Verantwortlichkeiten belegt. Hat aber gleichzeitig strukturell immer noch die Ausstattung einer Anstalt, die nur für das Belehren verantwortlich ist.
Was muss sich ändern?
Die Schulen haben ohnehin schon zu wenig Geld und zu wenig Lehrer*innen und dann müssen diese wenigen auch noch alles machen: die Pädagogik, die Didaktik, die IT, die Verwaltung, die Vertretungspläne und oft noch sogar noch die Raumreinigung. Warum man dafür nicht viele Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, Verwalter*innen einstellt, ist mir ein Rätsel.
Politiker*innen wollen gerne (wieder-)gewählt werden. Veränderungen in der Schule sind aber oft unpopulär.
Schuleltern sind ja mit die konservativste Kraft an der Schule. Wir wissen zum Beispiel seit 30 Jahren, dass Noten kontraproduktiv für Bildung sind und auch gar keine Auskunft über den Lernstand geben. Das ist in der Pädagogik, in der Psychologie gut wissenschaftlich untersucht. Aber viele Eltern beharren gerade darauf, dass Schulen weiterhin benoten. Einfach, weil sie das aus ihrer Schulzeit so kennen und aus dieser Zeit ihr Bild stammt, wie Schule zu sein hat.
Wir wissen auch aus der Wissenschaft, dass alle Kinder davon profitieren würden, dieses dreigliedrige Schulsystem abzuschaffen – auch die Guten. Das wird aber nicht gemacht, weil viele Eltern auch weiterhin sehr großen Wert auf das Gymnasium legen.
Wer Ihr Buch gelesen hat, würde jetzt sagen: So ist es halt in einer Demokratie...
Könnte man sagen. Aber zur Demokratie gehört auch, dass Leute versuchen, mit guten Argumenten für ihre Sicht zu streiten. Und das ist das, was ich tue. Wenn mein Ziel wäre, als Politikerin gewählt zu werden, hätte ich tatsächlich sehr schlechte Karten. Und genau deswegen finde ich direkt-demokratische Elemente wichtig. Denn insgesamt, über die letzten Jahrzehnte, hat sich ja im Schulsystem doch ordentlich was bewegt. Und gesellschaftliche Veränderungen, gerade die, die so tief greifen, brauchen viele Jahre. Und deshalb gebe ich mir Mühe, schreibe Bücher, gebe Interviews und trete öffentlich auf.
Marina Weisband will nicht nur reden, sondern praktisch etwas verändern.
Glauben Sie, dass sie damit genauso viel bewirken können wie mit einer Funktion in einer Partei?
Ich glaube sogar, dass ich damit mehr bewirken kann, und zwar vor allem mit meinem „aula“-Projekt - weil ich damit nicht nur rede, sondern praktisch zeige, dass etwas möglich ist. Ich verändere damit das Bildungssystem von unten her. Und ich glaube, dass das leichter ist, als zu versuchen, sich in sehr etablierten Strukturen gegen dieselben Strukturen zu wehren.
Sind Sie als Galionsfigur der Digitalisierung enttäuscht von dem, was heute aus der Vernetzung geworden ist?
Ja, ich war enttäuscht. Als ich 2009 bei der Piratenpartei anfing, bin ich da noch sehr viel naiver rangegangen. Ich habe gedacht, das Internet wird die Welt automatisch demokratischer machen – und das war natürlich totaler Quatsch. Das Internet ist einfach nur ein großer Verstärker. Und deshalb will ich eine gute, vernetzte, gerechte, resiliente Gesellschaft bauen, die das Internet als diesen Verstärker nutzen kann.
Das heißt, Sie würden sagen, es ist möglich, Gutes und Sinnvolles auch auf Plattformen wie Instagram, Facebook oder TikTok zu tun?
Man kann dort Sinnvolles tun, aber man wird nichts gewinnen. Weil wir keine echten, digitalen öffentlichen Räume haben. Wir haben nur private Wohnzimmer von Milliardären. Und teilweise sind diese Milliardäre Faschisten. Und wenn denen die Plattform gehört, dann ist das Ziel definitiv nicht, echten öffentlichen Diskurs herzustellen. Oder gar gerecht zu sein. Das Ziel der Plattform ist immer, Aufmerksamkeit an Werbetreibende zu verkaufen.
Da ist es auch egal, ob der Besitzer ein guter oder ein böser Mensch ist. Und wenn man Klicks verkaufen muss, muss man reißerisch sein. Muss man seine Leser wütend und abhängig machen. Und das ist nie gut für die Gesellschaft.
Was tun?
Ich plädiere für öffentliche digitale Plattformen, die den Nutzern gehören und nicht gewinnorientiert sind. Ähnlich wie bei den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunkanstalten. Als wir mit der Piratenpartei angefangen haben, brauchte man den etablierten Parteien mit Digitalthemen nicht zu kommen. Heute hat jede Partei ein Digitalprogramm. Mal schlechter und mal besser, aber da passiert auch auf Ebene der EU einiges. Und auch, wenn die Lobby noch klein ist für solche öffentlichen digitalen Plattformen, war die Chance, so etwas durchzukriegen, doch noch nie so gut wie heute.
Marina Weisband kommt im Rahmen der phil.Cologne mit ihrem aktuellen Buch "Die neue Schule der Demokratie. Wilder denken, wirksam handeln" (S. Fischer, 176 Seiten, 22 Euro), am Freitag, 14. Juni, in die Kulturkirche. Karten kosten 19 bis 25 Euro. Wir verlosen hier 3 x 2 Tickets für diese Veranstaltung und andere Veranstaltungen der phil.Cologne. Das Kölner Philosophiefestival startet am 11. Juni.
Marina Weisband, geboren 1987 in der Ukraine, ist Diplompsychologin und Expertin für digitale Partizipation und Bildung. Von 2011 bis 2012 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei Deutschland. Heute engagiert sie sich bei den Grünen in den Themenbereichen Digitalisierung und Bildung.
Hauptberuflich gestaltet sie seit 2014 unter anderem das Projekt aula - ein Konzept zur politischen Bildung und demokratischen Beteiligung von Jugendlichen an Schulen und außerschulischen Organisationen.