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Interview

Mathias Bonhoeffer
„Diese Demagogie ist an Zynismus nicht zu überbieten“

Lesezeit 5 Minuten
Pfarrer Mathias Bonhoeffer mit einer Familienbibel, in der auch die Geburt seines Großonkels Dietrich Bonhoeffer (1906 bis 1945) eingetragen ist

Pfarrer Mathias Bonhoeffer mit einer Familienbibel, in der auch die Geburt seines Großonkels Dietrich Bonhoeffer (1906 bis 1945) eingetragen ist

Mathias Bonhoeffer über seinen Großonkel Dietrich Bonhoeffer, das Verhältnis von Glaube und Widerstand und rechte Vereinnahmungsversuche.

Herr Bonhoeffer, nach seinem Tod wurde Ihr Großonkel Dietrich Bonhoeffer mal zum Hochverräter erklärt, mal zum antifaschistischen Widerstandskämpfer, zum Märtyrer und Heiligen – und neuerdings hat ihn die neu-evangelikale Rechte in den USA zur Leitfigur erkoren. Wem gehört Bonhoeffer?

Zunächst nur sich selbst. Es gab immer wieder Versuche, ihn zu vereinnahmen. Manchmal passte das zu ihm, wenn ich etwa an Desmond Tutus Kampf gegen die Apartheid in Südafrika denke oder die Theologie der Befreiung in Lateinamerika. Aber als Stichwortgeber für die Neue Rechte oder eine völkische, nationalistische Ideologie wie die von Trumps „Maga“-Bewegung mit ihrem Widerstandsgefasel ist mein Großonkel vollkommen fehl am Platz.

Er wird als entschlossener, unbeugsamer Kämpfer gegen das Böse dargestellt.

Genau – und wer wollte etwas dagegen haben, wenn jemand das Böse bekämpft? Die Frage ist aber doch: Was ist das Böse? Oder wer sind die Bösen? In den USA hat man den Namen Adolf Hitler durch Joe Biden oder Hillary Clinton ersetzt und sich auf Dietrich Bonhoeffer berufen. Diese Demagogie ist an Zynismus nicht zu überbieten.

Seine Familie, auch Sie, haben sich dann ja auch schützend vor ihn geworfen. Gibt es ein gemeinsames Verständnis, Nachfahren des großen Bonhoeffer zu sein?

Ich denke schon. Und bei mir persönlich auf jeden Fall.

Ich würde Dietrich Bonhoeffer zunächst einmal nicht als „Attentäter“ bezeichnen
Mathias Bonhoeffer

Wenn man – wie Sie – selbst Theologie studiert und Pfarrer wird, ist der Name dann vielleicht auch eine Last? Die berühmten „großen Fußstapfen“.

Auch das. Eine Zeit lang habe ich mir gesagt, ich mache das mit Kirche und Pfarramt trotz meines Namens. Ich habe früher auch nur selten öffentlich über meinen Großonkel gesprochen. Dann habe ich mich aber sehr viel mit ihm und seiner Theologie beschäftigt. Inzwischen sehe ich es schon als Teil meiner Aufgabe, sein Erbe weiterzuführen.

Sie sagen von sich selbst, Sie hielten sich – ich zitiere – für einen „nichtreligiösen, unfrommen Christen“. Das sind beides Bonhoeffer-Vokabeln, die man nicht ohne Weiteres versteht. Was ist ein Christ, der nicht religiös ist? Ein Leichtathlet, der nicht trainiert?

Das religionslose Christentum und seine nicht-religiöse Interpretation sind berühmt gewordene Begriffe aus Briefen, die Bonhoeffer 1944 im Wehrmachtsgefängnis Tegel geschrieben hat. Was er da zu denken versucht hat, ist Fragment geblieben. Ich glaube, es geht darum, dass man Menschen mit Religion und religiösen Gefühlen sehr leicht manipulieren kann. Dagegen wandte sich Bonhoeffer.

Wie muss ein Christentum beschaffen sein, damit es religiöse Manipulation vermeidet?

Ganz genau weiß ich das bis heute nicht. Aber wenn ich mich zum Beispiel in Jerusalem aufhalte und durch die Altstadt gehe, dann denke ich immer: Liebe Leute, hier ist viel zu viel Religion und viel zu wenig Glaube.

Der NS-Widerstandskämpfer und Pazifist Dietrich Bonhoeffer (undatiertes Archivbild).

Der NS-Widerstandskämpfer und Pazifist Dietrich Bonhoeffer (undatiertes Archivbild).

Stichwort religiöse Gefühle: Viele Menschen, auch außerhalb der Kirche, kennen Bonhoeffers Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“. Vertont ist es ein Klassiker des neuen geistlichen Liedguts. Gefühliger geht es eigentlich kaum. Können Sie es überhaupt noch hören?

Ich kann damit umgehen, dass es ständig gesungen wird – ähnlich wie Trude Herrs „Niemals geht man so ganz“. Was ich aber schon mache: Ich mute den Leuten den Kontext zu, der vielen gar nicht bewusst ist. Bonhoeffer hat „Von guten Mächten“ in Haft geschrieben, zur Jahreswende 1944/45, die mögliche Hinrichtung durch die Nazis vor Augen.

Adressatin des Gedichts war seine Verlobte Maria von Wedemeyer, eine junge Frau, halb so alt wie er. Haben Sie sie später einmal kennengelernt?

Nein, das Verhältnis zur Familie war … sagen wir: schwierig. Als „Von guten Mächten“ veröffentlicht wurde, hat der Herausgeber Eberhard Bethge so getan, als wäre es für die Familie geschrieben – und nicht eigens für Maria. Das ist ihr wohl – und ich glaube, nicht zu Unrecht – übel aufgestoßen.

In den USA kam unlängst ein Spielfilm über Bonhoeffer heraus. Untertitel „Pastor, Spy, Assassin“, also Pastor, Spion, Attentäter. Darin wird so getan, als wäre Bonhoeffers Weg in den Widerstand gegen Hitler geradlinig, bruchlos gewesen. Auch dagegen haben Sie protestiert. Wie war es wirklich?

Ich würde Dietrich Bonhoeffer zunächst einmal nicht als „Attentäter“ bezeichnen. Attentäter waren diejenigen, die gegen Hitler zur Waffe gegriffen oder die Bombe gelegt haben. Zu ihnen gehörte Bonhoeffer nicht, obwohl er auch dazu bereit gewesen wäre. Er soll gesagt haben, er würde es tun, aber vorher aus der Kirche austreten.

Warum das?

Weil es für ihn als Pastor und Pazifist alles andere als selbstverständlich war, Widerstand zu leisten.

„Dem Rad in die Speichen fallen“, wie Bonhoeffer es gesagt hat.

Ja, wobei er auch damit nicht unmittelbar den bewaffneten Kampf oder gar den Tyrannenmord gemeint haben dürfte, sondern ein politisches Eingreifen, wenn der Staat in seiner Recht und Ordnung schaffenden Funktion versagt. Dann, so heißt es wörtlich, müsse die Kirche im Ausnahmefall und nach der Entscheidung eines evangelischen Konzils „nicht nur die Opfer unter dem Rad verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen fallen“. Als lutherischer Theologe hatte Bonhoeffer das vom Apostel Paulus geprägte Verständnis, dass der Christ der staatlichen Herrschaft Gehorsam schulde. Bedenken Sie: Der deutsche Kaiser, den Bonhoeffer als Kind noch erlebt hatte, war das Oberhaupt der evangelischen Kirche in Deutschland. Von so einem theologisch fundierten Obrigkeitsverständnis bis zum Tyrannenmord ist es ein besonders langer Weg. Und bis es bei Bonhoeffer so weit war, hat es Jahre gedauert, auch wenn seine Gegnerschaft zum NS-Regime schon sehr früh einsetzte – eigentlich vom Moment der Machtergreifung 1933 an.

Was den Nazis sehr bald klar war.

Ja. Bonhoeffer hatte Schreibverbot, Lehrverbot, Aufenthaltsverbot für Berlin. Und schon 1943, also lange vor dem 20. Juli 1944, wurde er dann verhaftet.

Die Judenverfolgung hat Bonhoeffer schon sehr früh kommen gesehen. Für die evangelische Kirche, die in weiten Teilen auf Hitlers Seite war, ist er damit einerseits Stachel im Fleisch, andererseits Feigenblatt: Wir hatten ja auch Leute wie Bonhoeffer…

Meine Kirche hatte nach dem Krieg ihre liebe Not mit Bonhoeffer. Kein Wunder: In vielen Funktionen saßen immer noch dieselben Leute. Der Berliner Bischof Otto Dibelius hatte 1933 den Gottesdienst zur Feier von Hitlers Machtübernahme am „Tag von Potsdam“ geleitet – und war 1949 Festprediger zur Eröffnung des Bundestags. Da gab es schlimme Kontinuitäten. Bei uns im Rheinland erklärte sich die Evangelische Kirche erst 1980 in einem Synodenbeschluss zur „Judenfrage“ mit dem Wort, das jüdische Volk sei „der Augapfel Gottes“.

Meine Kirche hatte nach dem Krieg ihre liebe Not mit Bonhoeffer
Mathias Bonhoeffer

Sie sprachen über Bonhoeffers Theologie als Fragment. Was hätte er wohl zur Entwicklung seiner Kirche nach dem Krieg gesagt?

Im Grunde ist die Kirche das geblieben, was sie war: eine Großinstitution mit einer großen Nähe zum Staat. Und das bis heute: Mitunter kritisch, aber im Grunde staatstragend. Ich glaube, das hätte Bonhoeffer sich anders vorgestellt. Wie er damit klargekommen wäre? Schwer zu sagen. Es gab ja Mitstreiter der „Bekennenden Kirche“, die überlebt und sich weiter in der Kirche engagiert haben: Martin Niemöller zum Beispiel, der später Kirchenpräsident von Hessen und Nassau wurde. Oder auch Bonhoeffers enger Freund und Biograf Eberhard Bethge, der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland werden sollte.

Ein berühmtes Wort Bonhoeffers lautet: Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Löst sie diesen Anspruch ein?

Unzureichend. Wir sind mit der katholischen Kirche zusammen der größte Arbeitgeber nach dem Staat – mit den meisten Stellen im diakonisch-caritativen Sektor. Da ist Kirche für andere da. Und wie die jüngsten Untersuchungen zeigen, nehmen sogar die meisten Christen ihre Kirche nicht etwa über den Glauben und den Gottesdienst wahr, sondern eben über Diakonie und Caritas.

Das wäre Bonhoeffer vermutlich zu wenig gewesen. Die Aufgabe des Christen der Zukunft, hat er gesagt, bestehe „im Beten und im Tun des Gerechten“.

In der Tat. Als theologischer Ausbilder hat er die angehenden Vikare schon in den 1930er Jahre in die Gemeinden ausschwärmen lassen, sie sollten predigen und Gottesdienste halten, um den – wie er fand – katastrophalen Kirchenbesuch zu verbessern. Der lag damals bei drei Prozent. „Willkommen in der Gegenwart“, kann ich dazu nur sagen. Bei dieser Quote liegt unsere Kirche heute auch. Aber sie steht, immer noch. Zum Glück.