Michael Seewald forscht und lehrt an der Uni Münster. Am kommenden Mittwoch wird er mit dem Leibniz-Preis geehrt. Im Interview spricht er über Konflikte in Glaubensfragen, bei denen auch immer handfeste politische Interessen eine Rolle spielen, und über Veränderungen in scheinbar Festgefügtem.
Leibniz-Preisträger im Gespräch„Theologische Unkenntnis ist der Regelfall, nicht die Ausnahme“

Michael Seewald ist Professor an der Uni Münster. Bei seiner Berufung auf den Lehrstuhl, den zuvor unter anderem Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., innehatten, war er mit 29 Jahren einer der jüngsten Professoren Deutschlands.
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Herr Professor Seewald, wenn der Leibniz-Preis in seltenen Fällen an Theologen ging, dann an Kirchenhistoriker. Sie hingegen sind Dogmatiker, befassen sich also mit den Glaubenslehren der Kirche. Ist diese Arbeit einer Beurteilung durch nicht gläubige Wissenschaftler überhaupt zugänglich?
Michael Seewald: Mein Lehrstuhl heißt „Dogmatik und Dogmengeschichte“. Theologie, wie ich sie verstehe, muss daher mit beiden Augen in die Welt schauen: einem historischen und einem spekulativen Auge.
Ein theologischer Silberblick?
Wie die Mona Lisa. Nein, im Ernst: Auf ihrem historischen Auge muss die Theologie im Austausch mit anderen Wissenschaften zu verstehen versuchen, wie die Welt geworden ist und was sie heute ausmacht.
Aber über dem „spekulativen Auge“ haben die anderen Wissenschaften eine Augenklappe?
Nicht unbedingt. Normativ arbeitende Wissenschaften – etwa die Politische Theorie, die Rechtswissenschaft oder die Philosophie – haben es auch mit Spekulation zu tun. Spekulation bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, sich irgendetwas zusammen zu spinnen. Es geht darum, vernünftige Positionen zu entwickeln, die meist nicht in der Kategorie „empirisch wahr oder falsch“ darstellbar sind, sondern eher als „einleuchtend oder nicht einleuchtend“ bezeichnet werden können.
Wie tun Sie das als Theologe?
Ich gehe der Frage nach, wie wir Inhalte des christlichen Glaubens, die nicht beweisbar sind, so denken können, dass sie angesichts dessen, was uns heute als plausibel und vernünftig erscheint, Sinn ergeben.
„Historisch spannend an dem Konzil von Nizäa ist, dass es auch ein Politereignis war“
Nehmen wir mal ein Beispiel: Die Christenheit erinnert in diesem Jahr an das Konzil von Nizäa im Jahr 325. Es legte vor genau 1700 Jahren als Glaubenswahrheit – als „Dogma“ – unter anderem fest, dass Jesus Christus als Sohn Gottes „eines Wesens mit dem Vater“ sei. Wie kann das heute „plausibel und vernünftig“ erscheinen?
Die Beschäftigung mit Nizäa ist ein exemplarischer Fall für den doppelten Blick der Theologie, von dem ich sprach: dem historischen und dem systematisch-spekulativen. Historisch spannend an diesem Konzil ist zum Beispiel, dass es auch ein Politereignis war. Der römische Kaiser Konstantin, der selbst noch gar kein Christ war, berief die bis dahin größte Bischofsversammlung in seine Sommerresidenz Nizäa – das heutige Iznik in der Türkei – ein, um einen im römischen Reich eskalierten Streit zu schlichten, der die junge, vom Kaiser protegierte Kirche zu spalten drohte.
Worum ging es in diesem Streit?
Um die Frage: In welchem Sinne ist Jesus Christus Gott? Die in Nizäa unterlegene Partei, die sogenannten Arianer, vertrat die Ansicht, dass Jesus Christus „nur“ aus der Sphäre des Göttlichen stamme, aber nicht im vollen Sinne Gott sei. Die andere Partei erklärte, Jesus Christus sei nicht bloß irgendwie diffus mit dem Göttlichen verbunden, sondern – mit der erwähnten Formel – „eines Wesens“ mit Gott, dem Vater.
Wahrscheinlich ist die „diffuse“ Position diejenige, die heute eher geteilt würde, auch von vielen Christen: Jesus war eine besondere Persönlichkeit, mehr als irgendein Durchschnittsmensch. Aber auch „Gott“?
Was Sie jetzt wiedergeben, dürfte sich in der geistigen Landschaft des 4. Jahrhunderts gar nicht abbilden lassen. Auch die in Nizäa unterlegenen Arianer hätten sich nicht damit zufriedengegeben, dass Jesus bloß eine beeindruckende Persönlichkeit war.
Sondern?
Beide Gruppen, die in Nizäa miteinander stritten, gingen davon aus, dass in Jesus jemand Mensch wurde, der bereits vor der Geburt bei Gott, dem Vater, gelebt hat. Das Konzil von Konstantinopel, das die Beschlüsse von Nizäa ein paar Jahrzehnte später bestätigte, hat das auf die Formel gebracht: „aus dem Vater geboren vor aller Zeit“. So steht es bis heute im Glaubensbekenntnis der großen christlichen Kirchen.
Schon wieder ein Satz, den kaum jemand verstehen dürfte.
Worum es geht, ist gar nicht so kompliziert, wie es vielleicht klingt. „Geboren“ ist als Gegenbegriff zu „geschaffen“ gemeint. Wenn jemand etwas „schafft“, dann steht das Neugeschaffene auf einer niedrigeren Stufe als der Schöpfer. Anders bei der Geburt. Auch hier entsteht etwas Neues, aber auf gleicher Ebene. Das Kind ist genauso Mensch wie seine Mutter, die es gebiert. Dass laut Glaubensbekenntnis auch der Vater gebären kann, zeigt übrigens, dass das antike Christentum deutlich weiter gefasste Vorstellungen von den Rollen der Geschlechter hatte als die katholische Kirche heute.
„Theologische Unkenntnis oder Desinteresse sind kirchengeschichtlich aber der Regelfall, nicht die Ausnahme“
Denken Sie, das alles haben durchschnittliche Gläubige im Sinn, wenn sie sonntags im Gottesdienst das Credo sprechen?
Vermutlich nicht. Theologische Unkenntnis oder Desinteresse sind kirchengeschichtlich aber der Regelfall, nicht die Ausnahme. Und das hat die kirchliche Obrigkeit auch nicht weiter gestört. Lediglich von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es eine Phase, in der die Gläubigen katechetisch so geschult wurden, dass sie die zentralen Formeln der Glaubenslehre zumindest auswendig aufsagen konnten. Ob sie sie wirklich verstanden haben, ist eine andere Frage. Wenn die Leute heute mit den Formeln der Theologie wenig anfangen können, sind wir kirchengeschichtlich wieder auf dem Normalzustand.
Aber womit soll ein gläubiger Christ dann überhaupt noch etwas anfangen können?
Die Kernaussage von Nizäa könnte man vielleicht so zusammenfassen: Wenn wir wissen wollen, wie Gott ist, müssen wir schauen, wie Jesus von Nazareth gelebt hat und gestorben ist. Gott führt in Jesus ein Leben unter menschlichen Bedingungen. Gerade an einer im menschlichen Leben gescheiterten Existenz wie der des gekreuzigten Jesus erweist er, wozu Gott fähig ist. Dieses Paradox ist das Große am christlichen Glauben. Gott ist, bildlich gesprochen, ganz oben und ganz unten. Das Konzil von Nizäa hat das in ein Bekenntnis zu gießen versucht.
Warum sprechen Sie vom „Versuch eines Bekenntnisses“?
Weil der Erfolg des Konzils wechselhaft war. Kaiser Konstantin machte sich die Beschlüsse von Nizäa anfangs zu eigen und setzte sie als Reichsgesetz durch. Ab 328 wandte er sich jedoch den Arianern zu, also jener Gruppe, die auf dem Konzil von Nizäa unterlegen war. Die Bischöfe der auf dem Konzil noch erfolgreichen Gruppe wurden abgesetzt und mussten ins Exil. So ist zum Beispiel Athanasius, Bischof der heute in Ägypten gelegenen Hafenstadt Alexandria, nach Trier gekommen. Der innerkirchliche Konflikt dauerte noch ein halbes Jahrhundert mit aller Härte an. Das ist ein für das historische Auge der Theologie äußerst reizvolles Geschehen.
„Wenn heute manche behaupten, über den Glauben könne man nicht abstimmen, dann zeigen Konzilien: Das geht sehr wohl“
Inwiefern?
Wenn heute manche behaupten, über den Glauben könne man nicht abstimmen, dann zeigen Nizäa und die folgenden Konzilien: Das geht sehr wohl. Es war sogar der Normalfall. Offen blieb jedoch, ob die Mehrheit sich langfristig durchsetzen konnte. Denn Konflikte um Glaubensfragen waren – und sind – keine herrschaftsfreien theologischen Streitgespräche. Vielmehr spielen immer handfeste politische Interessen eine Rolle.
Dass die weltliche Macht der entscheidende Faktor ist, kann kaum ein Modell für kirchliches Konfliktmanagement sein, oder?
Nein. Und das zeigt: Man darf Ideen und Praktiken der Vergangenheit nicht einfach auf heute übertragen, auch nicht die eines so ehrwürdigen Konzils, wie Nizäa eines war. Historische Konstellationen sind nicht wiederholbar, nicht reproduzierbar. Wenn man aus der Dogmengeschichte eines lernen kann, dann dies: Auch scheinbar Festgefügtes kann sich verändern. Und was heute in der Dogmatik Geltung besitzt, verdankt sich nicht selten historischen Prozessen, die gar nicht lange zurückliegen müssen.
Auch dafür wäre ein Beispiel gut.
Nehmen Sie das geweihte Amt, von dem man ja den Eindruck gewinnen kann, in der katholischen Kirche gebe es nichts Wichtigeres. Was wir heute als Theologie des Amtes vorfinden, ist ziemlich neuen Datums – in Teilen gerade mal 60 Jahre alt. Speziell die Verbindung von Weihe und Leitungsgewalt, die das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) mit allem Nachdruck lehrt, ist dogmenhistorisch eine Fiktion. Diese Lehre geht davon aus, dass Leitung in der Kirche nur von Bischöfen und Priestern wahrgenommen werden kann. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Kirche von diesem Baum, auf den sie erst kürzlich gestiegen ist, nicht auch wieder herunterkommen sollte. Manche Dinge tauchen in der Lehre der Kirche eben neu auf; andere Dinge, die einmal zur Lehre der Kirche gehört haben, können sich ändern.
Was sich auch am Verhältnis von Staat und Religion zeigt? Heute sind wir es längst gewöhnt, beides zu trennen und dem Staat keine religiösen Aufgaben im engeren Sinne mehr zuzugestehen.
Aus gutem Grund. Aber auch hier gilt: Erst seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil akzeptiert die Kirche das so. Aufgabe des Staates ist es, das diesseitige Wohlergehen zu sichern, nicht das jenseitige Heil. Auch das trennt uns von der Situation, in der das Konzil von Nizäa stattfand, auf dem der Kaiser eine zentrale Rolle innehatte.
„In Deutschland aber ist die Universität ein wohletablierter Ort zum Theologietreiben, den man vonseiten der Kirche hegen und pflegen sollte“
Mit der Verbindung von Staat und Religion haben Sie als Theologieprofessor an einer staatlichen Universität aber kein Problem?
Nein. Weltweit gesehen ist die Universität nicht der einzige Ort, an dem auf anspruchsvolle Weise katholische Theologie betrieben werden kann. Es gibt zahlreiche kirchliche, vor allem von Ordensgemeinschaften betriebene Hochschulen. In Deutschland aber ist die Universität ein wohletablierter Ort zum Theologietreiben, den man vonseiten der Kirche hegen und pflegen sollte. Die Theologie profitiert stark von ihrer Verortung an den staatlichen Universitäten.
Warum?
Weil die Theologie an der Universität Teil eines breiten Fächerspektrums ist, innerhalb dessen sie sich bewähren muss und mit dem sie zugleich in einen fruchtbaren Dialog treten kann. Außerdem hält die Universität Regularien bereit, die die Theologie der unmittelbaren Verfügungsgewalt durch wechselnde kirchenpolitische Interessen entzieht. Deswegen sollte das Bemühen der Bischöfe dahin gehen, die universitäre Theologie zu stärken, anstatt sie mit sektiererischen Sonderprojekten zu schwächen.
Was spricht gegen ein vielfältiges Angebot für theologische Studien?
Nichts. Katholische Theologie kann im deutschen Sprachraum an über 60 Standorten studiert werden. Warum zum Beispiel Kardinal Woelki meint, er brauche in Köln noch einen Standort mehr, erschließt sich mir nicht.
Die deutsche Theologie, an den Universitäten betrieben und gelehrt, habe international ihren Rang eingebüßt. Sie sei abseitig und werde kaum noch wahrgenommen. So lautet eine verbreitete Kritik, nicht zuletzt aus dem Vatikan.
Meine Bücher liegen in elf Sprachen vor, auch auf Italienisch. Ich kann von den Einladungen, die mich aus aller Welt erreichen, nur einen Bruchteil annehmen. Gerade komme ich zum Beispiel von einer internationalen Konferenz aus Rom zurück, bei der es um das Konzil von Nizäa ging. Und für den Leibniz-Preis, den Sie zu Beginn angesprochen haben, ist die internationale Ausstrahlung der Forschung ein entscheidendes Vergabekriterium. Ganz ehrlich: Wenn es heißt, die deutsche Theologie sei provinziell und werde international nicht wahrgenommen, fühle ich mich nicht angesprochen. Die deutsche Theologie ist besser als ihr Ruf. Man sollte sie nicht aus kirchenpolitischen Interessen kleinreden.
Sie haben vorhin die Betonung des geistlichen Amts in der katholischen Kirche ironisiert. Für Sie selbst muss dieses Amt doch auch eine besondere Bedeutung haben. Sonst wären Sie kaum Priester.
Ich sage nicht, das Amt sei für die Kirche nicht wichtig. Aber ich als Amtsträger der Kirche nehme mich nicht so wichtig.
Was ist dann für Sie das Wichtige an diesem Amt?
Es muss in der Kirche Menschen geben, die von Amts wegen - also unabhängig von persönlichen Präferenzen und Stimmungen - dafür verantwortlich sind, dass der christliche Glaube in seiner Integrität erhalten bleibt. Zu dieser Integrität gehört: den Glauben zu verkünden, Gottesdienst zu feiern und den Dienst an den Schwachen zu gewährleisten.
Kirchliche Amtsträger sind nicht die einzigen, die das tun.
Sogar im Gegenteil: Die meisten derjenigen, die in der Verkündigung, der Liturgie und erst recht in der Caritas tätig sind, sind keine Amtsträger. Amtsträger haben jedoch dafür Sorge zu tragen, dass die genannten Aufgaben der Kirche in ihrer Mitte nicht in Vergessenheit geraten. Eine andere Frage ist, ob die Zulassungsbedingungen, die die katholische Kirche für das Amt stellt, sinnvoll sind. Der Ausschluss von Frauen ist zum Beispiel etwas, das mir theologisch nicht einleuchtet.
Halten Sie sich selbst für einen Seelsorger?
Ja und Nein. Ich habe großen Respekt vor den Frauen und Männern, die in der Seelsorge tätig sind. Was sie in der Pfarrei, am Krankenbett, in der Schule oder bei Notfällen leisten, erfüllt mich mit Ehrfurcht. Daher scheue ich mich, mich mit ihnen in eine Reihe zu stellen und mir anzumaßen, auch Seelsorger in diesem Sinne zu sein. Ich bin Priester, aber kein Pfarrer, und ich habe daher keine spezifische Gruppe, für die ich seelsorglich zuständig bin. Es gibt aber eine pastorale Qualität von Theologie. Und ohne mich aufspielen zu wollen, würde ich sagen, dass seelsorglich zu denken und zu handeln Teil meines theologischen Selbstverständnisses ist.
Was machen Sie als Leibniz-Preisträger 2025 jetzt eigentlich mit 2,5 Millionen Euro Preisgeld? Teure Apparaturen und Labors brauchen Sie als Theologe ja nicht.
Ich weiß es noch nicht.
Zur Person
Michael Seewald, geb. 1987, ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Münster und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Bei seiner Berufung auf den Lehrstuhl, den zuvor unter anderem die Theologen Karl Rahner und Joseph Ratzinger (später Papst Benedikt XVI.) innehatten, war er mit 29 Jahren einer der jüngsten Professoren Deutschlands. Seit 2022 ist Seewald auch Sprecher des Exzellenz-Clusters „Religion und Politik“ der Universität Münster.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören die viel diskutierten Bücher „Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln“ (2018) und „Reform. Dieselbe Kirche anders denken“ (2019), beide erschienen im Verlag Herder, Freiburg.
Am 19. März wird er in Berlin für seine „prägnanten, unkonventionellen und kreativen Studien“ mit dem Leibniz-Preis 2025 ausgezeichnet, dem wichtigsten und am höchsten dotierten Forschungsförderpreis in Deutschland. In der Begründung heißt es weiter, es sei Seewald mit seinem „Plädoyer für die Wandelbarkeit von Dogmen unter Beibehaltung der Tradition gelungen, eine Brücke zwischen gegensätzlichen Lagern im Katholizismus zu schlagen“. Damit gelte er als eine „Schlüsselfigur“, die „die aktuellen theologischen Debatten über Reform, Glaubenswandel und Tradition maßgeblich prägt – und auch die Wahrnehmung wissenschaftlich arbeitender Theologinnen und Theologen in einer breiten, nicht nur akademischen Öffentlichkeit“. (jf)