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Matinee zum Buch für die Stadt„Das traditionelle Familienbild ist die Wurzel allen Übels“

Lesezeit 5 Minuten
Fatma Aydemir bei der Matinee im Schauspielhaus.

Fatma Aydemir bei der Matinee im Schauspielhaus.

Die Autorin Fatma Aydemir kam zum Auftakt der Aktion „Buch für die Stadt“ mit ihrem Roman „Dschinns“ ins ausverkaufte Kölner Schauspielhaus.

Hüseyin Yilmaz hat einen Traum. 28 Jahre hat er in deutschen Fabriken als „Gastarbeiter“ Metallteile gefräst und Pappkartons gefaltet. In ein paar Jahren jedoch, wenn der jüngste Sohn die Schule beendet hat, wird Hüseyin Yilmaz „dieses kalte, herzlose Land“ namens Deutschland verlassen und eine eigene Wohnung in der Türkei, in Istanbul beziehen. Endlich wird er an einem Ort leben, den er als sein Zuhause bezeichnen kann. Wo es laut und bunt und fröhlich zugeht und wo man seine Sprache spricht.

Doch das Schicksal hat andere Pläne mit dem Patriarchen der Familie Yilmaz: „Baba“ ist tot, ein Herzinfarkt, kaum dass er die neue Wohnung das erste Mal betreten hat – und alle, die ihm nahestehen, eilen zur Trauerfeier nach Istanbul. So lernen wir sie also kennen: Ehefrau Emine, die Söhne Ümit und Hakan, die Töchter Sevda und Peri. Allenthalben tun sich bei diesem Zusammentreffen Brüche auf, werden nicht verarbeitete Traumata, werden alte Verletzungen und schlecht verheilte Narben sichtbar. Familie – das wird schnell deutlich – ist alles andere als ein heimeliges Konstrukt.

Miteinander ins Gespräch kommen

„Familie ist die Wurzel allen Übels. Jedenfalls das traditionelle Bild davon, das noch immer im Zentrum unserer Gesellschaft steht“, bringt Fatma Aydemir die Sache auf den Punkt. Die Journalistin und Schriftstellerin, 1986 in Karlsruhe geboren, ist Autorin des bewegenden Romans „Dschinns“, der in diesem Jahr das Buch für die Stadt in Köln und der Region ist. Und den man im weitesten Sinn als Familienroman bezeichnet könnte. Bei der Aktion handelt es sich um eine gemeinsame Initiative von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“. Zum Auftakt der Lesewoche gab es, unterstützt von JTI, wie gewohnt eine sonntägliche Matinee im Depot 1 des Schauspiel Köln. Wie wichtig Aktionen wie diese sind, betonte Christian Hümmeler, Mitglied der Chefredaktion des „Kölner Stadt-Anzeiger“. Literatur spiele eine große Rolle in Köln, sagte er. Dem konnte Bettina Fischer, Leiterin des Literaturhaus Köln, nur zustimmen: „Literatur stiftet Gespräche, und wir suchen Bücher aus, über die wir als Stadtgesellschaft miteinander ins Gespräch kommen.“

Vor ausverkauftem Haus sprachen Fatma Aydemir und Anne Burgmer, Kulturchefin des „Kölner Stadtanzeiger“, an diesem Vormittag über die Bedeutung von Familie, über die Traumata der ersten „Gastarbeiter“-Generation, zu der auch die Eltern der Autorin zählen, und natürlich über das Schreiben von Büchern, das für Fatma Aydemir alles andere als ein Spaß ist. Ganz im Gegenteil. „Bei mir floatet war nichts“, gab sie zu. Will heißen: „Jedes Buch ist eine neue Herausforderung. Ich muss immer scheitern und hadern, bis ich zufrieden bin.“

Jedes Buch ist eine neue Herausforderung
Fatma Aydemir

„Dschinns“ ist – nach ihrem Debüt „Ellbogen“ aus dem Jahr 2017 – Fatma Aydemirs zweiter Roman. Eigentlich habe sie eine Liebesgeschichte schreiben wollen, sagt sie. Immerhin arbeite sie drei bis vier Jahre an einem Buch und verbringe viel Zeit mit den Protagonistinnen und Protagonisten. Da müsse es schon „Etwas Nettes, Entspanntes“ sein. Doch daraus wurde nichts. Irgendwann habe sich Hüseyin Yilmaz in ihren Kopf geschlichen, ein Mann wie ihr Großvater und viele andere Vertreter der ersten Generation. Bereits im Eingangskapitel lässt sie ihn sterben, doch der Tote wird zum Katalysator für die Ängste und Geheimnisse der nächsten Generation.

Fatma Aydemirs Roman, der in den 1990er Jahren spielt, liegen zahlreiche Gespräche mit türkischen „Gastarbeitern“ zugrunde. Zwei, vielleicht drei Jahre wollten sie bleiben und als wohlhabende Männer zurückkehren in die Heimat. Doch ihre Träume erfüllten sich nicht. „Deutschland war nicht das, was du dir erhofft hattest, Hüseyin“, schreibt Fatma Aydemir in ihrem Roman. „Du hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat.“

Lücken in der Familiengeschichte

Fatma Aydemir machte bei ihren Recherchen die Erfahrung, dass die meisten Vertreter der ersten Generation kaum über Themen wie Emigration und Heimatverlust reden wollen. „Es gibt die Tendenz, unbequeme Aspekte auszublenden, etwa, warum sie die Türkei verlassen haben. Wenn man fragt, heißt es pauschal: Wir sind gegangen, weil alle anderen auch gegangen sind.“ Mögliche Gründe wie wirtschaftliche Not oder politische Verfolgung hingegen würden ausgespart. Die Folge dieses selektiven Erzählens seien „Lücken in der Familiengeschichte“, die wiederum Auswirkungen auf die Nachfolgegenerationen hätten. „Wir wissen vieles einfach nicht.“

Welche Folgen dieses Nicht-Wissen haben kann, zeigt Fatma Aydemirs Roman auf eindringliche Weise. Jedes Familienmitglied hat seine eigene Geschichte, und ein familiäres Wir-Gefühl will sich selbst in Zeiten der Trauer nur schwer einstellen. Da ist Hakan, der seine Verletzlichkeit hinter einem „Panzer aus harter Männlichkeit“ verbirgt. Da ist Sevda, die ihre ersten Lebensjahre getrennt von den Eltern in der Türkei verbrachte. Peri ist „ein Teil von gar nichts. Sie wusste nicht einmal, wo sie herkam“. Und Ümit kämpft mit der Erkenntnis, dass er in einen Jungen verliebt ist. „Ich wollte zeigten, dass alle Geschwister ihre Geschichte und die Frage ihrer Herkunft anders konstruieren“, sagt Fatma Aydemir. „Es gibt nicht DIE Gastarbeiter und DIE Türken. Das unter dem Brennglas einer Familie zu sehen fand ich sehr spannend.“

Es gibt nicht DIE Gastarbeiter und DIE Türken
Fatma Aydemir

Auch sie, beantwortete Fatma Aydemir die letzte Frage von Anne Burgmer, kämpfe mit Dschinns, mit jenen unsichtbaren Geistern also, die einem jeden Menschen das Leben schwermachen können. Das Schreiben über Dinge, die für sie selber schwierig seien, helfe ihr dabei. „Ich konfrontiere mich mit meinen persönlichen Dschinns und versuche, von ihnen wegzukommen.“ Ein persönliches Statement am Ende einer rundum gelungenen Matinee, für die es viel Beifall gab.


Die Aktion Buch für die Stadt von Literaturhaus Köln und „Kölner Stadt-Anzeiger“ läuft noch bis zum 17. November. Alle Veranstaltungen finden Sie hier.