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Matrix, Blair Witch, Truman ShowDiese drei Filme ahnten vor 25 Jahren unsere heutige Welt voraus

Lesezeit 5 Minuten
Keanu Reeves wird von der computersimulierten Matrix verschluckt.

Keanu Reeves als Neo im Film „The Matrix“ aus dem Jahr 1999

Wie uns „Truman Show“, „Matrix“ und „Blair Witch Project“ vor 25 Jahren den Boden unter den Füßen wegzogen.

Dies ist eine Geschichte über drei Filme, die vor 25 Jahren die Welt erträumt haben, in der wir heute leben. Aber vielleicht müssen wir zuerst noch ein wenig weiter zurück ins 20. Jahrhundert reisen, in den Herbst des Jahres 1977, zu einer Science-Fiction-Konferenz im französischen Metz. Deren Ehrengast, der US-Autor Philip K. Dick, erzählt einem ungläubigen Publikum von mystischen Erkenntnissen, die ihn drei Jahre zuvor nach einer Zahnbehandlung mit Thiopental ereilt haben: „Wir leben in einer computerprogrammierten Realität, und der einzige Hinweis, den wir darauf haben, ist, wenn eine Variable verändert wird und ein Wandel in unserer Realität eintritt.“

Im schnellen Vorlauf spulen wir in den März 1999. Stanley Kubrick ist gestorben. Die deutsche Luftwaffe fliegt ihren ersten Kampfeinsatz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Angst vor dem Millennium-Bug wächst. Und in den USA läuft ein Film an, der Philip K. Dicks Barbiturat-induzierte Visionen zu kulturellem Allgemeingut ummünzt: Lana und Lily Wachowskis „The Matrix“, mit Keanu Reeves als Hacker Neo, der sich wie sein Publikum im Jahr 1999 wähnt. Bis er die rote Pille der Erkenntnis schluckt und begreift, dass sein Alltag nur eine Simulation ist, die ihm von einer Künstlichen Intelligenz vorgegaukelt wird, die seinen Körper als Batterie nutzt.

Was ist real und was nur vorgetäuschte Realität? Die Frage stellen sich Kinobesucher ein paar Monate später erneut, als sie geschockt aus „The Blair Witch Project“ taumelten. Der Horrorfilm gibt sich als Zusammenschnitt „echter“ Aufnahmen aus: „Im Oktober 1994 verschwanden drei Filmstudenten in den Wäldern bei Burkittsville, Maryland, während sie eine Dokumentation drehten. Ein Jahr später wurde ihr Filmmaterial gefunden“, behauptet der eingeblendete Text zu Beginn des Films, weiß zitternd auf schwarzem Grund.

Die Nachwuchs-Filmer wollen einen örtlichen Hexenkult erforschen. Je amateurhafter ihre Bilder, desto wirkungsvoller der Schrecken. Das Budget für „The Blair Witch Project“ beträgt 35.000 Dollar, an den Kinokassen spielt der Film 250 Millionen Dollar ein. Die beiden Regisseure, Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, sind selbst noch Filmstudenten. Am längsten grübeln sie darüber nach, aus welcher Motivation heraus ihre Protagonisten in panischer Flucht weiterdrehen würden. Dass Menschen in jedweder Situation zur Kamera greifen, erschien 1999 abstrus.

Genau wie die Frage, ob das, was man gerade gesehen hat, die Wirklichkeit abbildet oder vortäuscht. Vor 25 Jahren gibt es so gut wie kein Reality-TV – „Big Brother“ läuft erst im Herbst 1999 in den Niederlanden an – und digital manipulierte oder von einer KI erzeugte Bilder sind reine Science-Fiction. „Wir akzeptieren die Realität der Welt, die uns dargeboten wird. So einfach ist das“, sagt Christof, der gottgleiche Produzent in „The Truman Show“. Peter Weirs Komödie ist im Sommer 1998 in die US-Kinos gekommen, Jim Carrey spielt darin den leutseligen Versicherungsvertreter Truman Burbank, der nicht ahnt, dass er der Star einer Serie ist und seine Frau, seine Freunde und Mitbürger nur Schauspieler.

Zehn Jahre später berichtet der Psychiater Joel Gold, dass er bereits fünf Patienten behandelt hat, die glaubten, ihr Leben sei eine Realityshow. Das sogenannte „Truman-Syndrom“ ist die Extremform des narzisstischen „Hauptcharakter-Syndrom“: Die Welt ist dein Film, du bist der Held, alle anderen Menschen nur Nebendarsteller.

Auch hier war Philip K. Dick seiner Zeit weit voraus: Der Protagonist seines Romans „Time Out of Joint“ von 1959 lebt in einer künstlich erschaffenen Welt, auch hier sind außer ihm alle Personen bezahlte Schauspieler. In Wahrheit schreibt man 1998, das Jahr der „Truman Show“. Die Realität der Welt nicht als solche zu akzeptieren schien 1959 – und auch 1999 noch – eher ein Hinweis auf eine paranoide Schizophrenie, auf jeden Fall eher grenzwertiges als allgemein akzeptiertes Verhalten. Das ist heute anders.

„Nimmst Du die rote Pille, bleibst Du im Wunderland, und ich zeige Dir, wie tief der Kaninchenbau geht“, eröffnet der geheimnisvolle Morpheus Neo. Die blaue Pille würde den Hacker ruhigstellen, die Illusion bliebe Illusion. Die rote Pille zu schlucken – „to be red-pilled“ – bedeutet im heutigen politischen Diskurs, das angebliche Lügengewebe der Mainstream-Gesellschaft und ihrer Medien zu zerreißen und zum Querdenker zu werden.

Aber es gibt keinen Ausweg aus der Matrix. Die Erzählung „Wir leben in einer Simulation“ wird von der nächsten Erzählung „Wir befreien uns aus der Simulation“ abgelöst. Die rote Pille liefert die – kaum hinreichende – Begründung dieses neuen Narrativs. Neos enthaarter und verkabelter Körper in der Biokapsel entspricht seiner Tagesexistenz als Sachbearbeiter in einer Bürozelle, sein Freiheitskampf gegen die übermächtige KI ist die heroisch aufgeblasene Version seiner illegalen Hacking-Aktivitäten nach Arbeitsschluss. Ein typischer Fall von Hauptcharakter-Syndrom, könnte man sagen.

Die Wirklichkeiten vor und hinter dem Vorhang bedingen sich wechselseitig: Neo füttert in seiner Bürozelle die Matrix, so wie heute entrechtete Kreative den Content produzieren, mit denen die Künstlichen Intelligenzen, die sie ersetzen sollen, gefüttert werden.

Rechte Populisten versprechen die Rückkehr in eine von allen Störfaktoren gesäuberte Welt, in eine idealisierte Vergangenheit. Aber die existiert bestenfalls als Simulation. Wie die blitzblanke Kleinstadt Seahaven – ein gigantisches Fernsehstudio – in der Truman Burbank sein gesamtes Leben verbracht hat.

Unser Lebensgefühl anno 2024 entspricht wohl eher dem der drei Nachwuchsschauspieler in „The Blair Witch Project“, die von ihren Regisseuren mit Kameras im Wald ausgesetzt und dann erbarmungslos durch diesen gescheucht wurden. Nicht ahnend, dass ihr ganz reales Verlorensein, ihre wachsende Wut und Panik, den eigentlichen Inhalt des fiktiven Films ausmachen würden.