Die Scham erlebt aktuell durch soziale Medien einen neuen Aufschwung – mit teils fatalen, politischen Folgen. Ein Gespräch mit Journalist Matthias Kreienbrink.
Matthias Kreienbrink über ein politisches Gefühl„Scham ist ein sehr machtvolles Instrument“

Der Journalist Matthias Kreienbrink hat ein Buch über die Scham geschrieben, das er am 15. März bei der lit.pop vorstellen wird.
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Herr Kreienbrink, Sie haben ein Buch über das soziale Gefühl der Scham geschrieben, das Sie am 15. März bei der lit.pop in Köln vorstellen werden. Was passiert eigentlich, wenn wir uns schämen?
Matthias Kreienbrink: Zunächst einmal ist Scham ein körperliches Signal, das uns vermittelt, dass wir eine Grenze überschritten, oder eine Norm verletzt haben. Dabei spielt die neurologische Komponente eine große Rolle, denn Scham ist vor allem ein Stressgefühl, bei dem etwa Adrenalin oder Cortisol ausgeschüttet werden. Gleichzeitig sorgt Scham für eine veränderte Perspektive. Wenn wir uns schämen, sehen wir uns selbst – meist unbewusst – durch die Augen anderer. Wir stellen uns vor oder erleben, wie andere auf uns blicken. Dieses „Andere“ können tatsächliche Menschen sein, aber auch gesellschaftliche Normen oder internalisierte Wertvorstellungen.
Mit unserer Gesellschaft verändert sich also auch unser Schamempfinden?
Ja, verallgemeinert kann man sagen: Beschämung wurde lange Zeit eher von einer Obrigkeit nach unten getragen. Diejenigen, die beschämen – etwa die Regierung, oder auch die Kirche – standen hierarchisch klar in einer höheren Position. Diese Art der Beschämung existiert bis heute. Gleichzeitig entsteht in den letzten Jahren aber eine neue Form der Scham, bei der die sozialen Medien ein sehr starker Katalysator sind. Sie haben die alte Hierarchie der Scham aufgehoben: Theoretisch kann heute jeder und jede andere öffentlich beschämen. Dadurch ist Scham komplexer, diffuser und schwerer greifbar geworden. Und es wird schwieriger, sich gegen Beschämungen zu wehren, denn der Absender ist oft nicht mehr klar definierbar.
Die sozialen Medien haben die Hierarchie der Scham verändert
Inwiefern haben die sozialen Medien diese Entwicklung begünstigt?
Das Format der populärsten sozialen Medien ist auf Verkürzung ausgelegt. Gerade in Diskussionen ist die Beschämung das einfachste Mittel, denn sie verknappt und spitzt zu. Es ist viel einfacher, etwas auf den Punkt zu bringen, wenn man es auf einen Schlagsatz kondensiert, der als Angriff fungiert. So funktionieren auch die Algorithmen, die zunächst das fördern, womit am meisten Interaktion stattfindet. Natürlich beeinflusst das unsere Diskussionskultur, wenn nur noch gilt: Wer schafft es, jemanden vorzuführen und damit am meisten Retweets oder Likes auf den jeweiligen Plattformen zu erreichen?
Anstatt echte Diskussionen zu führen, greifen wir also lieber auf beschämende Schlagworte zurück: Boomer, Gendergaga, Flugscham oder Woke – sind nur einige der Begriffe aus Ihrem „Glossar der neuen Schambegriffe“. Welche Folgen hat das für unsere Gesellschaft?
Mich besorgt am meisten, dass wir bei vielen, gerade emotional aufgeladenen Themen seit Jahren auf der Stelle treten. Vieles im politischen und gesellschaftlichen Diskurs läuft inzwischen auf einer rein performativen Ebene ab. Die Diskussion gerät in einen Stillstand, wodurch die viel beschworenen Fronten entstehen. Wenn wir uns als Gesellschaft stark in diesem Modus der gegenseitigen Beschämungen austauschen, dann profitieren vor allem diejenigen, die bewusst schamlos auftreten und die Normen verletzen wollen. Es wird dann nur eine weitere Aufregung produziert, weil wir uns sowieso nur in dieser Logik der empörten Beschämung gegenseitig Dinge an den Kopf werfen. Das macht es Populisten, Extremisten und Faschisten viel leichter, diesen Modus anzusprechen, nur eben noch ein bisschen extremer.
Wenn wir uns als Gesellschaft in diesem Modus der gegenseitigen Beschämungen austauschen, profitieren vor allem diejenigen, die bewusst schamlos auftreten.
Wie könnten wir diesem Teufelskreis der gegenseitigen Beschämungen entkommen?
Wir brauchen wieder eine angenehme Art von Verunsicherung: Die Fähigkeit, die eigene Meinung wieder zu ändern, wenn man eine neue Erkenntnis gewinnt, eigene Widersprüche nicht nur auszuhalten, sondern als etwas zutiefst Menschliches anzuerkennen. Wenn sich das jeder und jede bewusst machen würde, bevor er oder sie ein Tweet abschickt, wäre schon viel erreicht. Auch mehr Nachsicht kann helfen: was andere Personen sagen, immer in einem Kontext zu sehen. Wenn etwa Trump oder Politiker der AfD gezielt schamlose Aussagen machen, um zu verletzen, erkennen wir, dass andere das eben nicht tun. Viele sagen Dinge, hinter denen keine Boshaftigkeit steckt, sondern vielleicht einfach ein schlechter Tag. Diese große Unterscheidung zwischen Kalkül und fehlbarem menschlichen Verhalten wieder stärker zu treffen, wäre auch schon ein Gewinn.
Schamlosigkeit als Widerstand?
„Die Scham muss die Seiten wechseln.“ – Mit dieser Aufforderung hat Gisèle Pelicot zuletzt ihre Stimme gegen ihre Vergewaltiger und für die Opfer sexualisierter Gewalt erhoben. Ist es möglich, sich der Macht der Scham zu widersetzen?
Durch ihre „Schamlosigkeit“ hat Gisèle Pelicot die Macht der Scham über sie gebrochen, indem sie öffentlich gemacht hat, was ihr passiert ist, darüber gesprochen hat und deutlich gesagt hat: „Ich lasse mich dafür jetzt nicht mehr beschämen“. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich nicht geschämt hat. Sie wird das Gefühl sicherlich empfunden haben, weil es einfach so mächtig ist. Immer, wenn wir über Dinge sprechen, für die wir uns schämen, ist es wieder im Körper präsent. Deswegen ist es unglaublich kraftvoll, dass Gisèle Pelicot genau das öffentlich gemacht hat und gesagt hat: „Ich lasse mich von dieser Scham nicht bestimmen“. Das ist ein Beispiel für die sehr produktive Seite der Schamlosigkeit, die sonst vor allem negativ konnotiert ist.
Gleichzeitig sehen wir Personen in der Öffentlichkeit wie Donald Trump, die mit ihrem Verhalten die Grenzen der Scham bewusst immer weiter ausreizen.
Die Schamlosigkeit von Trump ist das völlige Gegenteil von Gisèle Pelicot, denn in dem Fall geht es darum, den machtvollsten Menschen noch mehr Macht zu geben. Scham ist ein unglaublich machtvolles Instrument, das sehr schnell missbraucht werden kann.
Scham als Vorbedingung von Gesellschaft
Die Scham aus unserer Gesellschaft verbannen zu wollen, ist also auch keine gute Idee?
Absolut nicht. Scham hat auch eine produktive Funktion. Wenn wir in einer Gesellschaft leben wollen, wie wir sie heute verstehen, muss es bestimmte Normen geben, von denen natürlich nicht alle immer sinnvoll sind. Das ist ein stetiger Aushandlungsprozess, in dem sich völlig zurecht auch immer wieder Dinge verändern. Trotzdem gibt es vielleicht gewisse Regeln, die zumindest momentan wichtig für unser Zusammenleben sind. Dabei hat die Scham einen regulierenden Charakter. Sie signalisiert uns, wenn wir die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten überschreiten. Insofern ist sie eine Vorbedingung von Gesellschaft und damit auch sehr wichtig.
Sie schreiben, jeder von uns hat auch eine „Schambiografie“. Welche Rolle hat die Scham in Ihrem eigenen Leben gespielt?
Meine erste bewusste Erinnerung an Scham ist, wie ich als kleiner Junge bei einem Spaziergang versehentlich die Hand einer fremden Frau hielt, anstatt die meiner Mutter. Viele Menschen, mit denen ich für das Buch gesprochen habe, kennen solche Momente. Das ist keine traumatische Erfahrung, bleibt aber im Gedächtnis. Später hatte ich in der Schule mit Mobbing zu tun. Es gab Phasen in meinem Leben, in denen habe ich sehr stark gespürt und rückblickend gemerkt, wie sehr mich das Gefühl der Scham geprägt hat, wie ich mich dadurch anders verhalten habe und teilweise heute noch anders auf bestimmte Sachen reagiere, als es andere Menschen tun, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben.
Hat sich Ihr Blick auf die Scham denn durch die Arbeit an Ihrem Buch verändert?
Ja, mir ist noch mal sehr viel klarer geworden, wie notwendig diese oft negativ betrachtete Emotion sein kann, wenn wir in einer funktionierenden Gesellschaft leben wollen. Und ich habe gemerkt, wie hilfreich es ist, wenn man es schafft, Scham in Worte zu fassen. Sie in Sätze gießen zu können, wenn die Scham sich körperlich nicht mehr so stark anfühlt – das kann ein sehr befreiender Moment sein.
Matthias Kreienbrink schreibt als freier Journalist unter anderem für „Die Zeit“, „Der Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ über gesellschaftliche und digitale Themen. Er studierte Literatur- und Geschichtswissenschaft in Berlin. Sein Buch „Scham - Wie ein machtvolles Gefühl unser Leben neu prägt“ ist beim Kösel Verlag erschienen. 224 Seiten kosten 22 Euro.