Zum Spielzeitauftakt am Düsseldorfer Schauspielhaus wagen sich Robert Wilson und Musikerin Anna Calvi an Herman Melvilles großen Roman.
„Moby Dick“ in DüsseldorfDiesen Abend von Regiestar Robert Wilson muss man gesehen haben
Mächtig wirft sich der schwarze Wal aus den Wellen, blickt siegesgewiss in den Schiffsbauch des Düsseldorfer Zuschauerraums. Möwen kreischen im Surroundsound. Ein anhaltend hoher Ton kündigt den kommenden Sturm an. Er stammt von einem Glas, das im Orchestergraben zum Singen gebracht wird. Dann lässt es das kleine Orchester gewaltig aufbrausen, eine Welle aus E-Gitarren, Schlagwerk und anschwellenden Geigen türmt sich auf und bricht, während der Prospekt mit dem eindrucksvollen Seestück hochgefahren wird.
So viel dunkle Romantik muss sein. Sieht nicht der junge Seemann Ismael, als er am Anfang von Herman Melvilles „Moby-Dick“ das „Spouter-Inn“ betritt, ein solches Gemälde, groß, verschmutzt, mit einem „unheilvollen Etwas“, einem „gigantischen Fisch“ in seiner Mitte? Und führt ihn nicht jener vom Tabakgenuss verrußte Ölschinken und der darauf dargestellte Wal zu sehr viel eindrücklicheren, wie wohl abstrakteren Betrachtungen über die endlose See, ihre größten Bewohner und die kleinen Menschen, die ihnen nachjagen?
Nicht anders verhält es sich in Robert Wilsons Version des berühmten Stoffes. Dem Überwältigungskitsch folgen die bekannt strengen Tableaus des Star-Regisseurs. Angefangen mit seiner Inszenierung von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ – für die Intendant Wilfried Schulz eigens das damals für eine Renovierung eingerüstete Schauspielhaus öffnete – wird der Amerikaner vom Düsseldorfer Publikum gefeiert, wie zuletzt zu seiner Hochzeit von den „Civil Wars“ am Schauspiel Köln bis zum „Black Rider“ am Hamburger Thalia Theater. Seine Tableau-artigen Arbeiten wirken wie ein letztes Bollwerk der bildverliebten Postmoderne und passen damit ideal in die westdeutscheste aller Städte. „Moby Dick“, erneut mit Songs der britischen Rock-Gitarristin und -Sängerin Anna Calvi, ist bereits Wilsons vierte Produktion am Gustav-Gründgens-Platz und ein mehr als würdiger Spielzeit-Auftakt.
Ein grandioses Bollwerk sollte man ergänzen, denn der 82-Jährige bewegt sich noch immer auf der Höhe seiner Kunst, jede neue Szene ist ihr eigener Wow-Effekt in Schwarz und Weiß, vom flachen Riesenhaus, aus dem ein alter, weißbärtiger Ismael tritt, um einem zappeligen Jungen ein weiteres Mal die Mär vom verrückten Kapitän Ahab und seiner letzten Fahrt zu erzählen, bis zu den schwarzen Walfischbooten, aus denen Matrosen mit Taschenlampen ins Publikum leuchten, über ihnen ein ahnungsvoller Himmel voller Möwen.
Robert Wilsons Lichtmalereien waren selten schöner
Einerseits: Man kennt das alles. Die Scherenschnitt-Optik, die Lichtmalereien, die Caspar-David-Friedrich’schen Rückenfiguren. Andererseits: In der Auseinandersetzung mit diesem All-inclusive-Roman, der für seinen schieren Umfang, für seine Erzählwut, für seine formalen Volten berühmt ist, funkelt Wilsons strenger Stil umso kontrastreicher. Melvilles rund 200.000 Wörter hat der Regisseur bis auf wenige Phrasen eingedampft. Die werden desto manischer wiederholt, bis zur Unsinnigkeit, bis sich die Bilder endgültig vom Text emanzipiert haben.
Der kleine Zappelphilipp, den Wilson dazu erfunden hat, verbindet hyperaktiv die statischen Szenen – und stört zugleich den glatten Verlauf der bekannten Handlung. Er will etwas Neues hören: „Cause if I dream it/Maybe it will happen“ („Denn, wenn ich es mir erträume/Wird es vielleicht passieren“), insistiert er im Songtext von Anna Calvi. Er ist der junge Mensch voller Potenzial, die Gegenfigur zum hassverzerrten Ahab, immer sprungbereit, wer weiß wohin. Nebenbei verbinden sie auch ihre Struwwelpeter-Sturmfrisuren.
Wenn Ahab und die Männer der Pequod endlich auf den weißen Wal treffen und von diesem prompt in die Tiefe gerissen werden – was Wilson natürlich nicht als Actionsequenz, sondern als eine Art Opernchor inszeniert – erträumt der Junge sich ein alternatives Ende, in dem die ganze Mannschaft, nun selbst in reinem Weiß gekleidet, zum erzählenden Ismael nach Nantucket zurückkehrt. Die Idee, dass man seinem festgeschriebenen Schicksal entkommen kann, ist das Amerikanischste am europhilen Wilson.
Dem größten Roman der amerikanischen Literatur ein Happy End zu verpassen, ist mindestens vermessen, aber unter unmöglich macht es Wilson nun mal nicht. Seine Inszenierungsmethode degradiert Schauspielerinnen und Schauspieler zu Beleuchtungsobjekten, zu menschlichen Gliederpuppen. Immer wieder geben laute Peitschenschnalzer den Wechsel zur nächsten expressionistischen Geste vor. Und doch liegt gerade darin eine große Freiheit, das Bewusstsein wird ausgeschaltet, man tanzt in Ketten, die naturgegeben Anmut tritt hervor. Wie bei der stimmgewaltigen Rosa Enskat als Ahab, die schon beim „Sandmann“ Wilson-Erfahrungen sammeln konnte, beim ebenfalls Wilson-erprobten Christopher Nell als „Boy“, und das gilt ebenso für Kilian Ponerts Ismael und Heiko Raulins Starbuck, der dem fanatischen Seefahrer vergeblich irdische Vernunft predigt.
Anna Calvis Musik verstärkt den märchenhaften Effekt des Abends
Anna Calvis Musik verstärkt den märchenhaften Effekt des Abends, ihre Songs scheuen nicht die große Geste, mal klingt das Pathos der frühen Arcade Fire an, mal die heitere Resignation des späten Nick Cave. Wenn überhaupt etwas erzählt wird, dann ist es die Utopie eines harmonischen Zusammenlebens von Männern. Keine Szene ist zärtlicher als die, wenn sich Ismael und der polynesische Harpunier Quequeg im „Spouter-Inn“ ein Bett teilen müssen. Bei Wilson liegen sie in zwei rechteckigen Auslassungen getrennt übereinander, nur ihre Hände berühren sich, aber das ist erotischer als die meisten Liebesszenen. Im letzten Bild tritt auch Ahab bescheiden von links zur Reihe der geretteten Mannschaft hinzu, befreit vom Wahn, bereit zur Gemeinschaft.
Was für ein schönes Alterswerk Robert Wilson hier gelungen ist.
„Moby Dick“, Schauspielhaus Düsseldorf, 105 Minuten, keine Pause, 8., 28., 29. September, 6., 19., 20. Oktober, Karten gibt es hier