Mit der Geschichte von Otto Müllers Gemälde „Zwei weibliche Halbakte“ verarbeitet „Charlie Hebdo“-Zeichner Luz auch sein eigenes Schicksal.
Museum LudwigWie „Charlie Hebdo“-Zeichner Luz mit einem Kölner Bild vom Überleben erzählt

Der französische Zeichner Luz stellt im Museum Ludwig sein Comic „Zwei weibliche Halbakte“ vor
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Eine Abstimmung im Stadtrat könne mehrere Monate dauern, mahnt Evelyn Weiss, damals stellvertretende Direktorin des Museum Ludwig. „Wir haben mehrere Jahrzehnte gewartet, da können wir uns noch ein paar Monate gedulden“, antwortet Ruth Haller. Die Tochter des jüdischen Anwalts und Kunstsammlers Ismar Littmann hatte die Restitutionsforderung für Otto Müllers Bild „Zwei weibliche Halbakte“ bereits 1961 eingereicht. 37 Jahre später ist Haller auf Einladung der Kulturdezernentin Marie Hüllenkrämer nach Köln gekommen.
Weiss führt sie durch das Depot des Museums, das geraubte Bild hat sie auf einer Staffelei platziert. Gegen die Auflagen des Sicherheitsprotokolls lässt sie Ruth Haller und ihren Mann eine Dreiviertelstunde lang mit dem expressionistischen Gemälde allein. Der Tochter des Sammlers kommen die Tränen: „Papa ...“, seufzt sie auf – ihr Vater hatte wenige Monate nach der Machtübernahme der Nazis seine Anwaltszulassung verloren und sich im September 1934 selbst getötet.
Im Mittelpunkt steht die Nazi-Propagandaschau „Entartete Kunst“
Nicht nur nachlesen, auch nachgucken und -fühlen kann man diese Szene in „Zwei weibliche Halbakte“, dem neuen Comic des französischen Zeichners Luz, bürgerlich Rénald Luzier. Der Band erzählt mit der Geschichte des Gemäldes nicht nur den Aufstieg und das Wüten der Nationalsozialisten – im Mittelpunkt steht die berüchtigte Nazi-Propagandaschau „Entartete Kunst“ –, er erzählt die Geschichte zudem aus der Sicht des Gemäldes: Der Leser schaut aus dem Rahmen des Kunstwerks ins Leben hinein.
In Frankreich ist Luz' ungewöhnlicher „bande dessinée“ ein großer Erfolg. In Angoulême, Europas wichtigsten Comicfestival, wurde „Zwei weibliche Halbakte“ im Januar mit dem Fauve d'or, dem Preis für den besten Band des Jahres ausgezeichnet. Die deutsche Ausgabe stellte der Zeichner jetzt im Museum Ludwig vor, in unmittelbarer Nähe zu Otto Müllers Bild.

Luz' Pastellskizze nach Otto Müllers Bild "Zwei weibliche Halbakte"
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„Mein eigentlicher Plan war“, sagt Luz im Gespräch mit Angela Spizig, „über mich selbst zu schreiben, aber mit den Mitteln der Kunst.“ Das mag zunächst verwundern, denn im Comic erfährt man zuerst einmal viel über Otto Müller, der nicht als Expressionist gesehen werden will, sondern als freier Künstler, und man erfährt ebenso viel über die vielen Menschen, die Müllers Bild berührt, bezaubert oder auch zur Weißglut gebracht hat.
Der biografische Kern geht auf eine Therapie zurück, die Luz Anfang der 1990er Jahre begonnen hatte, um seine Flugangst zu kurieren. Sein Analytiker habe allerdings weniger über Neurosen sprechen wolle, als über expressionistische Kunst – und darüber, wie sein Patient den Rest seines Lebens zu gestalten gedenke: „Überlegen sie, ob sie nicht, ein Künstler sein wollen?“
Der Rest von Rénald Luziers Leben begann am 7. Januar 2015
Der Rest von Rénald Luziers Leben begann am 7. Januar 2015, am Morgen seines 43. Geburtstages. 23 Jahre hatte er als politischer Zeichner für das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ gearbeitet. Dem Attentat, bei dem etliche Freunde starben oder schwer verletzt wurden, entkam er nur, weil er am Abend zuvor in seinen Geburtstag hineingefeiert und die Redaktionssitzung verschlafen hatte.
Als Überlebendem fiel Luz die Aufgabe zu, das Titelblatt der ersten „Charlie“-Ausgabe nach dem Massaker zu zeichnen, einen weinenden Mohammed, der ein „Je suis Charlie“-Schild hochhält. Wider Willen war er zur Symbolfigur geworden, stand unter ständiger Beobachtung. Personenschützer begleiten ihn bis heute, wer zur Pressekonferenz will, muss sich ausweisen. Deshalb schauen in „Zwei weibliche Halbakte“ die Bilder zurück: „Ich bin schon so viel gesehen worden“, sagt Luz, „ich möchte, dass Sie, die Leser, sehen!“
Ein Jahr nach Anschlag fing Luz an, Comicbände zu zeichnen
Ein Jahr nach Anschlag habe er angefangen, Comicbände zu zeichnen, „die ersten drei Bücher waren die Trilogie meiner Resilienz“. Später übernahm er auch andere Projekte, wie etwa die Comicversionen von Virginie Despentes Bestseller-Reihe „Vernon Subutex“. Mit „Zwei weibliche Halbakte“ kehrt er nun zu seinem künstlerischen Ursprungsimpuls zurück.
Otto Müllers Doppelporträt habe er eher intuitiv ausgewählt: „Ich suchte einen Künstler, der nicht allzu bekannt ist, den ich auch selbst nicht sehr gut kannte. Heute denke ich, dass mich einiges mit Otto Müller verbindet, angefangen mit dem scharfen Strich für die Konturen.“ Die „Halbakte“ habe er in einer Dokumentation über die „Entartete Kunst“-Ausstellung entdeckt. „Die hingen dort auf Kinderhöhe. Da habe ich mich gefragt, wie wohl ein Kind auf dieses Bild blickt.“
Die Antwort findet sich im Comic, es ist der erste Auftritt von Ruth Haller, geborene Littmann. Ihr Vater hat das Gemälde gerade vom Künstler erworben, wir sehen aus dem Bild von oben auf die kleine Ruth: „Papa, was heißt denn ‚erotisch‘?“, will sie wissen. „Dass es schön ist, Ruth“, sagt der Vater.
Luz hatte große Teile des Bandes fertiggestellt, als er endlich nach Köln reiste. „Das war ein sehr bewegender Moment für mich, als ich vor dem Bild stand.“ Sollte er es fotografieren? Nein, malen! Ins Zwiegespräch treten. Seine Pastell-Skizze findet man am Ende des Bands. Eine Dreiviertelstunde hatte er vor „Zwei weibliche Halbakte“ verbracht, genauso lange wie Ruth Haller.
Luz: „Zwei weibliche Halbakte“, dt. von Lilian Pithan, Reprodukt, 192 S., 29 Euro