Das Kölner Museum Schnütgen hat seine Sammlung mittelalterlicher Kunst neu sortiert und zeigt uns eine Welt magischer Geheimnisse.
Museum Schnütgen in KölnWenn brave Christen im Chorgestühl Stippeföttche tanzen
Aus heutiger Sicht war das Mittelalter voller bizarrer Geheimnisse, die für die damaligen Menschen allerdings so selbstverständlich waren wie das Amen in der Kirche. Was soll man etwa von den Obszönitäten halten, die anscheinend zu Scherzen aufgelegte Handwerker in hölzerne Chorgestühle schnitzten? Sie finden sich unterhalb der kleinen Stützbretter, die alten und gebrechlichen Gläubigen die langen Stehzeiten erleichterten und den schönen Namen Miserikordien (nach der lateinischen Barmherzigkeit) trugen. Auf ihnen recken uns Männer ihre nackten Hintern entgegen, betrunkene Mönche liegen unter Fässern und ganz Enthemmte tanzen sogar Stippeföttche.
Offenbar fanden die kirchlichen Auftraggeber dieser Schnitzereien, dass auch das Laster zur Schöpfung gehört und daher darstellungswürdig sei – zumal auf Höhe der Genitalien, wo man lieber keine Muttergottes sah. Im Kölner Museum Schnütgen gibt es ein besonders schönes Exemplar dieser oft bestaunten Kunstgattung: ein züchtig gekleideter Narr, der die Weltkugel vor sich her rollt. Schnütgen-Direktor Moritz Woelk vergleicht ihn mit den „Global Playern“ unserer Zeit. Auch sie würden versuchen, sich die Welt zum Spielball zu machen, statt sich in den göttlichen Weltplan einzugliedern.
Am Anfang der neuen Präsentation steht Museumsgründer Alexander Schnütgen
An diesem Freitag präsentiert das Kölner Museum für mittelalterliche Kunst seine prächtige Sammlung in neuer Ordnung und „erzählerischer“ als bisher. Die Mehrzahl der rund 700 Exponate hat kleine Texttafeln bekommen, die in aller Kürze die wichtigsten Angaben zum Objekt enthüllen und auch das eine oder andere Geheimnis aus dem vernünftigen Geist ihrer Entstehungszeit erklären. Vier gedruckte Kurzführer gehen bei ausgewählten Schmuckstücken noch etwas in die Tiefe, und für die Digital Natives sind etliche QR-Codes in der Präsentation verstreut. Die beste Einführung in die mittelalterliche „Wunderwelt“ dürfte aber das feierliche Eröffnungswochenende bieten: Vom 6. bis 8. Dezember erschließen bei freiem Eintritt elf Führungen die „neuen Wege durch die Sammlung“.
An den Anfang der neuen Präsentation haben Woelk und seine Mitarbeiterinnen einen „Inforaum“ zu Museumsgründer Alexander Schnütgen (1843-1918) gestellt. Eine Wandtapete zeigt den Sammler und katholischen Glaubensmann inmitten seiner überbordenden Schätze, der erläuternde Text fällt angesichts Schnütgens opulenter Persönlichkeit allerdings erstaunlich nüchtern aus. Der Kölner Domkapitular war zu Lebzeiten nicht nur in seiner Heimatstadt bestens bekannt, sondern auch auf den Straßen und in den Dörfern der Region, und überhaupt überall dort, wohin die Säkularisierung die Kirchenkunst verstreut hatte. Kein Fundstück war ihm zu gering, um es seiner Sammlung einzuverleiben, und gelegentlich auch kein Winkelzug zu schade, um es günstig in seinen Besitz zu bringen. Schnütgens Leben war reich an Anekdoten, selbst auf dem Sterbebett lieferte er sie frei Haus: Als ihm der Priester das Kreuz entgegenhielt, soll er sich mit letzter Kraft empört haben: „Schlechtes vierzehntes Jahrhundert“.
Im Jahr 1906 schenkte er der Stadt den Grundstock jener Sammlung, die heute unter seinem Namen zu bewundern ist. Sie wächst stetig, weshalb Woelk zahlreiche Neuerwerbungen in die Präsentation „einschmuggeln“ konnte; anderes wurde wieder aus dem Depot geholt. Beinahe jedes Objekt besticht dabei durch seine handwerkliche Qualität, den Erfindungsreichtum seiner Schöpfer – und dadurch, dass es uns drängt, das Rätsel seiner Bedeutung zu entschlüsseln. An den Anblick des abgeschlagenen und auf einer Schüssel drapierten Johannes-Haupts ist der Kirchen- und Museumsbesucher möglicherweise gewöhnt. Aber warum wurden dem Täuferkopf in England drei Engel wie Salatblätter hinzugesellt? Woelk weiß Rat: Sie sollen den Heiligen demnächst am Schopf hinauf zum Himmel heben.
Andere Formen und Motive erklären sich eher aus dem alltäglichen Gebrauch im Kirchendienst, wie etwa eine höhenverstellbare Buchstütze oder ein liturgisches Gewand, das japanische Chrysanthemen als Sonnenräder trägt. Bei einer anderen Amtskleidung ist eher die Herstellungsweise interessant: In einem der Kurzführer erfährt man, dass der Faden der Maulbeerspinnerraupe „die einzige in der Natur vorkommende textile Endlosfaser“ ist und die Raupen „vor dem Ausbrechen aus dem Kokon getötet werden, damit sie den langen Faden nicht zerstören“. Man wolle mit „sanften Tönen“ informieren, so Woelk, und nicht mit dem Holzhammer des „Erklärbären“ hantierten.
Schon im Mittelalter wurde Nippes nach berühmten Meisterwerken hergestellt
Dem regelmäßigen Schnütgen-Besucher wird bei den neuen Wegen durch die Sammlung vieles bekannt vorkommen. Aber vieles auch nicht, und manchmal erzielen die Kuratoren durch kleine Neugewichtungen eine große Wirkung. Eine dreiköpfige Triumphkreuzgruppe hat jetzt einen passenden Platz gefunden, hoch über den Köpfen der Besucher, so wie es sich bei für die Untersicht gearbeiteten Skulpturen gehört. Neu ist das Handbuch über den Anbau goldener Äpfel (es geht um Zitrusfrüchte), dessen reich verzierter Buchschnitt sämtliche Young-Adult-Bände alt aussehen lässt.
Besonders freut Woelk das Rendezvous dreier Figürchen, die mutmaßlich aus einer Kölner Werkstatt stammen und zwischenzeitlich als historistische Kopien des 19. Jahrhunderts abgeschrieben waren. Mit ihren puppenhaften Gesichtern scheinen sie den Madonnen Stefan Lochners aus dem Gesicht geschnitten zu sein, was sie ein wenig nach Merchandising-Artikeln aussehen lässt. Doch neuere Materialuntersuchungen belegen, so Woelk, die Herkunft aus dem Mittelalter. Damals wurde eben auch schon (fantastischer) Nippes nach berühmten Meisterwerken hergestellt.
Nicht nur wegen solcher Modernismen lässt sich im Museum Schnütgen auf Schritt und Tritt erleben, wie nah uns das geheimnisvolle Mittelalter ist und wie eindringlich seine Kunst bis heute zu uns spricht. Das liegt zum einen an universalen Themen wie Tod und Glaube, Leid und Hoffnung, und zum anderen an der atemberaubenden Geschicklichkeit, mit der diese Werke geschaffen wurden. Aus diesen Gründen packt uns ein kleines Tödlein immer noch und vermag uns der von Dämonen verfolgte wilde Mann weiterhin zu rühren. Und ein Kruzifix, das im Weltkrieg zu Schaden kam, trägt die Passionsgeschichte mit seinen frischen Wunden wie selbstverständlich in die Gegenwart.
„Kunst erzählt. Neue Wege durch die Sammlung“, Museum Schnütgen, Cäcilienstr. 29-33, Köln, Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-20 Uhr. Eröffnungswochenende: 6. bis 8. Dezember, Eintritt frei.