Der Kölner Schriftsteller Navid Kermani spricht über die Lage in Israel und im Iran und seine Erwartungen an die deutsche Politik.
Lage im Nahen OstenNavid Kermani: „Das ist ein neuer Dreißigjähriger Krieg“
Herr Kermani, wir wollten über Ihren neuen Roman sprechen, dessen Ich-Erzählerin ausgerechnet eine Krisen- und Kriegsreporterin aus Köln ist. Dann kam der Hamas-Terror gegen Israel. Und jetzt ist Ihnen nicht so nach Belletristik zumute.
Es gibt wohl keine zwei Staaten, die so involviert in die Geschehnisse in Israel sind wie ausgerechnet die beiden, deren Pässe ich habe. Iran als Hauptsponsor des Hamas-Terrors und mit seiner offiziellen Rhetorik, die auf die Vernichtung Israels zielt; Deutschland durch seine Geschichte.
… zu deren Lehren es gehört, dass Existenzrecht und Sicherheit Israels „deutsche Staatsräson“ sind. Was folgt eigentlich aus diesem Bekenntnis?
Kurzfristig kann man nichts anderes tun, als mit den Menschen zu sein – auf beiden Seiten. Ich hoffe und bange – mit den Menschen in Israel, aber auch mit den Menschen in Palästina. Auf beiden Seiten habe ich Freunde. Ich war auch in Gaza und habe in meinem Reporterleben wenige Landstriche gesehen, die trostloser waren, wo so viel Verzweiflung und völlige Perspektivlosigkeit herrscht. Ich hoffe und bete, dass der Moment für politisches Handeln wiederkehrt und aus all diesem Schrecken – und gerade aus diesem Schrecken – paradoxerweise die Einsicht erwächst, dass Araber und Juden nun einmal zusammen auf diesem Fleckchen Erde leben. Weder werden die einen verschwinden noch die anderen. Aber im Moment ist der Schock zu groß. Das merke ich an mir selbst. Die Situation macht mich im Augenblick hilflos und blockiert mein Denken. Mir kam wieder in den Sinn, was der frühere Nahost-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, Rudolf Chimelli, Anfang der 1990er Jahre zu mir sagte. Sinngemäß: „Wenn du mal in meinem Alter bist, wird die ganze Region explodiert sein und in Brand stehen. Da wirst du als Westler nicht mehr einfach in Damaskus, Sanaa oder Bagdad in einem Teehaus sitzen und unbeschwert Wasserpfeife rauchen.“
Das war noch vor dem ersten Irak-Krieg und dem 11. September.
Ich hielt Chimelli für einen Untergangsnostalgiker. Heute schaut man sich um und muss erkennen: Er hatte recht. Spätestens seit 2003 bricht ein Land nach dem anderen auseinander, wird ein Land nach dem anderen von Gewalt, Vertreibung, Bürgerkrieg, Terror heimgesucht. Das ist, wenn Sie so wollen, ein neuer Dreißigjähriger Krieg mit allen Grausamkeiten des Dreißigjährigen Kriegs. Was Israel jetzt widerfährt, ist daher nicht neu. Aber es betrifft uns ungleich stärker, weil Israel uns aufgrund der deutschen Geschichte besonders nahesteht. Das Schreckliche daran ist aber auch der Erfolg. Der Terror der Hamas ähnelt sehr der Strategie des IS: Es geht darum, dass die Angst von den Menschen Besitz ergreift, sich in ihre Seelen frisst und zu einer eigenen Macht wird. Man reagiert dann nicht mehr vernünftig.
Was ist denn eine „vernünftige“ Reaktion?
Denken besteht aus „Ja, aber…“. Der Widerspruch ist für das Denken konstitutiv. Doch angesichts dessen, was die Menschen gerade in Israel erlitten haben, verbietet sich das „Aber“. Wenn man das Wort nur öffentlich ausspricht, sitzt man schon im Boot der Relativierer und Rechtfertiger. Das heißt: Der Terror setzt das Denken aus – und genau das wollen die Terroristen erreichen. Sie wollen, dass die Angegriffenen ihre Rationalität, ihre Humanität verlieren. Angreifer und Angegriffene gleichen sich so in einer wechselseitigen Dynamik immer mehr an. Das gilt es zu verhindern. Man muss sich die Rationalität, die Humanität bewahren. Die Spannung empfindet wohl jeder von uns.
Ist das eine Warnung, die man der israelischen Regierung nahebringen sollte?
Das ist ja nicht spezifisch für Israel. Denken Sie an die Reaktion der USA auf den 11. September, an Guantanamo Bay, die Irak-Lügen und Abu Ghraib. Die Bush-Regierung hat damit heiligste Wert der amerikanischen Nation verraten. Das würde auch in Deutschland drohen, in Indien oder in jedem anderen Land, wenn es auf vergleichbar brutale Weise angegriffen wird: In der Abwehr das zu zerstören, was man doch eigentlich gegen den Terror verteidigen will, nämlich die eigene Zivilisiertheit. Das genau will der Terror erreichen: Dass wir uns verlieren. Anschläge allein können das nie. Das können nur wir selbst.
Und Sicherheit bekommt man damit auch nicht.
Es ist doch offensichtlich, dass Benjamin Netanjahus politisches Versprechen von Sicherheit durch maximale Härte zu maximaler Unsicherheit geführt hat.
Das ist Ihre Botschaft?
Was Israel betrifft: Das Land braucht gerade gewiss keine wohlfeilen Zurufe von der Seitenlinie – weder von mir noch von anderen. Es gibt in Israel selbst genügend Stimmen, die auf den Zusammenhang hinweisen zwischen der Politik einer in Teilen rechtsradikalen, rassistischen und offenbar auch korrupten Regierung und der entsetzlichen Situation, in die das israelische Volk jetzt geraten ist. Diese Stimmen sind im öffentlichen Diskurs Israels absolut lebendig. Ich habe den Eindruck, man sollte ihnen fürs Erste nur zuhören und ihnen allenfalls international noch mehr Gehör verschaffen.
Und ansonsten gilt „uneingeschränkte Solidarität“ – vonseiten Deutschlands?
Ich tue mich mit dem Begriff schwer. In der Politik gibt es nichts Uneingeschränktes. In dem Augenblick, als die USA 2003 das Völkerrecht brachen, war die Solidarität Deutschlands zu Recht beendet. Aber wenn ich doch davon reden soll, dann gilt die uneingeschränkte Solidarität den Menschen in Israel. Das ist etwas anderes als die Solidarität mit der bisherigen Regierung Netanjahu.
Und was heißt das?
Solidarität mit den Menschen in Israel bedeutet zum Beispiel, dem politischen und intellektuellen Diskurs hierzulande eine klare Grenze zu setzen.
Wie bestimmen Sie diese Grenze?
Man darf sie zunächst einmal nicht zu weit ziehen. Ich bin bekanntermaßen ein strikter Gegner von Cancel Culture und Zensur. Aber natürlich setzen das Strafrecht und der Anstand Grenzen. Und da sehe ich schon meine Aufgabe, klar zu sagen, gerade auch in Richtung der arabischen und muslimischen Communitys: Gewalt gegen Zivilisten verbietet sich. Wer die Gewalt gegen Zivilisten mit klammheimlicher Freude kommentiert, sie gutheißt und damit die Opfer auch noch verhöhnt, der stellt sich gegen unser Gemeinwesen. Der schließt sich selbst aus und muss im Zweifel auch strafrechtlich belangt werden können.
Für die „klammheimliche Freude“ lässt sich das gut sagen. Aber was ist mit denen, die sagen, man müsse doch auch verstehen, woher die Aggressionen gegen den Staat Israel und seine Politik rühren?
Derselbe Satz kann sehr unterschiedlich gemeint sein. Natürlich muss man Dinge „verstehen wollen“. Das Denken sollte ja nicht einfach aussetzen. Selbst im Krieg muss man verstehen wollen. Das ist Teil der Feindbeobachtung. Und es gehört zum Vermächtnis und Auftrag gerade der großen jüdischen Vordenker Europas, die im Schicksal des jüdischen Volkes immer auch das Schicksal jedes verfolgten Volkes erkannt haben. Aber hinter dem vorgeblichen Verstehen können sich auch Inhumanität und Zynismus einnisten. Und dafür gibt es kein Verständnis.
In Ihrem Roman heißt es einer Stelle: „Das meiste Unglück auf Erden verursachen jene, die sich die meiste Mühe geben, es zu vermeiden.“ Ist das auch Ihr Gefühl?
Wissen Sie: Vom Unglück und von der Gewalt kann man sehr gut leben – ökonomisch wie politisch. Das zeigt die Hamas auf denkbar erschreckende Weise. Egal, wie Israel jetzt reagiert und welche Schläge gegen die Hamas gelingen – der Terror der Hamas wird als „Erfolgsmodell“ im Raum stehen: „Die anderen sind doch alles bloß Schwätzer, die Hamas tut etwas.“ Es kann nicht richtig sein, diesem Beispiel zu folgen.
Aber „etwas tun“ zu müssen, ist doch jetzt zwingend geboten, auch für die deutsche Politik.
Das Paradoxe – und auch das gilt nicht nur für die aktuelle Situation: Erst wenn die Katastrophe eingetreten ist, wird überlegt: Was kann man tun? Dabei waren wir alle Zeugen einer Eskalation über Monate und Jahre. In meiner Friedenspreis-Rede von 2015 habe ich den katholischen Bischof von Mossul im Irak zitiert, der den Westen und die Weltmächte um Hilfe bat, um den IS aus seinem Land zu vertreiben: „Heute sind sie bei uns. Morgen werden sie bei euch sein.“ Wir haben das ignoriert – und der Krieg ist Stück für Stück näher gerückt. Heute tobt er in der Ukraine – in direkter Nachbarschaft zur Europäischen Union. Dabei war doch Aleppo in Syrien schon die Blaupause Putins für die Belagerung von Mariupol.
In einem Aufsatz für die „Zeit“ haben Sie sich jüngst aufs Fragen verlegt – Fragen nach einer Strategie, die den Krieg in der Ukraine beenden kann. Welche Fragen hätten Sie für den Konflikt in Nahost?
Zunächst stelle ich fest: Auch die palästinensische Zivilbevölkerung sieht, wohin die Hamas sie führt. Wer hungern und frieren muss, der wird sich fragen, wer daran Schuld hat. Ich hoffe es jedenfalls.
Die tonangebenden Leute in der Region haben die Antwort: Israel.
Auf meinen Reisen hatte ich nicht den Eindruck, dass die Menschen es sich so einfach machen. Nur können sie das unter den Bedingungen korrupter, diktatorischer Regime nicht so einfach artikulieren. Das gilt übrigens auch für Iran. Wo gab es denn in Nahost Proteste gegen die Palästina-Politik der eigenen Regierung? In Iran! Der Widerstand kommt aus der iranischen Zivilgesellschaft selbst. Überlegen Sie einmal, was sich in der gesamten Nahost-Region alles ändern würde, wenn die Politik Irans auch nur im Ansatz dem Willen des iranischen Volks entspräche. Iran ist ein Schlüssel für die Befriedung der gesamten Region.
Navid Kermani ist am Sonntag, 15. Oktober, 20 Uhr, mit seinem neuen Roman „Das Alphabet bis S“ (Carl Hanser Verlag, 592 Seiten, 32 Euro) zu Gast bei der lit.Cologne Spezial. Es moderiert die Schriftstellerin Mithu Sanyal. Die Veranstaltung findet im WDR Funkhaus, Klaus-von-Bismarck-Saal, statt. Es sind nur noch Restplätze verfügbar. Zudem liest Kermani am 18. Oktober, 21 Uhr, in der Zeche Zollverein in Essen im Rahmen der lit.Ruhr.
Wir verlosen für den Abend 3 x 2 Karten. Bitte schreiben Sie bis 15. Oktober, 8 Uhr, eine Mail mit Ihrem vollen Namen und dem Betreff „Navid Kermani“ an ksta-kultur@kstamedien.de.
Informationen zu den anderen Lesungen in der kommenden Woche - unter anderem mit Térezia Mora, Richard David Precht und Daniel Kehlmann - finden Sie auf der Homepage des Festivals.
Wie könnte es denn gelingen, dass der Wille des iranischen Volks sich Bahn bricht? Alle Aufstände wurden blutig unterdrückt – so auch in diesem und im vorigen Jahr.
Es ist nicht Sache des Westens, das Regime zu beseitigen. Das können nur die Iraner selbst. Natürlich ist die Verzweiflung groß angesichts der anhaltenden Repression mit Verhaftungen, Folter, Vergewaltigung und Mord. Aber das Regime steht mit dem Rücken zur Wand. Selbst mit dem „Teufel“ Saudi-Arabien hat man sich jetzt eingelassen. Das zeigt, in welcher Defensive das Regime steht. Es hat praktisch jeden Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Der Widerstand hat alle sozialen Schichten erfasst und reicht bis in religiöse Kreise. Von der einst großen Machtbasis ist nur noch der – zugegebenermaßen starke - Gewaltapparat geblieben mit seinem umfassenden wirtschaftlichen Konglomerat. Und natürlich der Rückhalt durch Mächte wie Russland und China.
Wenn Sie einen Systemwechsel von außen ablehnen, was empfehlen Sie dem Westen dann?
Ich möchte schon daran erinnern, dass ich – zusammen mit vielen anderen – seit langem vor der Illusion warne, es könne mit dem inzwischen vollends radikalisierten Regime in Teheran Stabilität im Nahen Osten geben. Das Mindeste wäre doch, dass man die von Teheran ausgehende Gewalt nach außen – in die Ukraine, in den Nahen Osten – einzudämmen versucht. Stattdessen haben Deutschland und die EU das Regime faktisch stabilisiert.
Wodurch?
Durch lediglich symbolische Sanktionen, durch anhaltenden Geldfluss, durch die Bereitschaft zu Zugeständnissen, weil man von Iran etwas will. Die europäische Politik läuft weiter der Illusion hinterher, es könnte mit diesem Regime ein Arrangement geben. Mäßigung gehört aber nicht in die DNA dieses Regimes. Noch einmal: Das Land ist in der Hand von Extremisten geraten, von religiösen Faschisten, wie das Regime inzwischen sogar innerhalb des eigenen schiitischen Klerus genannt wird. Das ist ignoriert worden – und jetzt zahlen die Menschen in Israel mit ihrem Blut die Quittung.
Und wie lautet Ihre Prognose?
Wenn ich vor einem Jahr, bei Beginn der Proteste in Iran, noch zu den eher Pessimistischen gehörte, weil ich nicht an einen raschen Umsturz glaubte, bin ich im Vergleich zu vielen anderen, die nun verzweifelt sind angesichts der Lage, fast schon wieder zuversichtlich, weil ich sehe, dass der gesellschaftliche Umbruch weitergeht und sich sogar beschleunigt. Dass auch der politische Umbruch folgt, ist eine Frage der Zeit…
Von wie viel Zeit?
Das weiß ich nicht. Sicher nicht von Monaten, aber auch nicht von Jahrzehnten. Deshalb macht die Politik Deutschlands und Europas einen fundamentalen Fehler, wenn sie darauf setzt, dass dieses Regime sich behauptet. Einen vergleichbar verhängnisvollen Fehler wie im Umgang mit Putins Russland.
Zur Person
Navid Kermani, geb. 1967, ist Schriftsteller und Publizist. Er lebt in Köln. Für seine Arbeiten wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2015 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Der Orientalist mit iranischen Wurzeln ist exzellenter Kenner des Nahen und Mittleren Ostens, den er häufig für Reportagen bereist hat. (jf)