Thomas Steinfelds „Goethe“-Biografie ist elegant geschrieben, nennt die Dinge beim Namen und fällt vor allem nicht in die Safranski-Falle.
Neue Goethe-BiografieEin Klassiker, der uns fremd bleiben muss
Auf der letzten Seite seiner neuen Goethe-Biografie widmet sich der Verfasser dem bekannten, zwei Jahre nach Goethes Tod von Johann Joseph Schmeller gemalten Bild, das den Verblichenen in seiner letzten Lebenszeit im Arbeitszimmer seines Weimarer Wohnhauses zeigt, dem Schreiber John diktierend. Dabei fallen eindringliche Beobachtungen ab: „Goethe erscheint hier nicht als Poet, nicht als Denker, nicht als Künstler, ja nicht einmal als Forscher. Das Bild zeigt einen Prinzipal, der seinem Sekretär das Geschäft aufträgt […]. Weder von Büchern noch von Kunstwerken ist auf diesem Gemälde viel zu sehen, die Natur bleibt draußen ebenso wie die Stadt. Das Bild ist Programm: Es zeigt einen anwesenden Abwesenden.“
Damit formuliert Thomas Steinfeld ein Leitmotiv, ja eigentlich die Quintessenz seiner Buches: Goethe „als solcher“ verschwindet bereits zu Lebzeiten und erst recht danach unter den Lasuren der teils selbstinduzierten Stilisierungen, Interpretationen, Projektionen, Zuschreibungen. Dabei scheint es der Nachwelt bis heute ähnlich zu gehen wie Faust, dem von Helena nur Kleid und Schleier bleiben. Solchermaßen gerät diese Biografie implizit zu einer Studie über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit ihrer selbst als einer literarisch-historiografischen Form.
Vieles lässt sich ermitteln und erschließen, aber genauso viel bleibt Rätsel und Widerspruch im Leben, im Werk und in der Wirkung: Der wie kein zweiter die Epochenumbrüche seiner Zeit mit seismografischem Gespür wahrnahm, vermied diese Themen im Gespräch und nervte mit dem Ausweichen auf seine privaten Interessen die Zuhörenden. Der die Essenz der Erscheinungen aus ihrer Genese, aus ihrer ruhigen Entwicklung herzuleiten und zu erklären versuchte, mochte die Geschichte nicht, weil er nichts Gutes von ihr erwartete. Der konservative Freund des Bestehenden und Gegner der Revolution nannte eine beträchtliche Portion an zynischem Nihilismus sein Eigen, die er in der Gestalt des Mephisto gleichsam von sich selbst fortschrieb. Solchermaßen wird da ein Leben zum proteushaft-vielfältigen Rollenspiel, das genauso viel verbirgt wie es enthüllt.
Wiederherstellung der Fremdheit – das könnte die Maxime von Steinfelds Goethe-Biografie sein
Wiederherstellung der Fremdheit – das könnte Steinfelds verborgene Maxime sein, die für den Leser rundum wohltätige Ergebnisse zeitigt. Unter anderem entgeht der Autor der Falle, in die Rüdiger Safranski mit seiner Goethe-Biografie von 2013 tappte: durch distanzlose Überidentifikation die Statue eines säkularen Heiligen zu errichten, der auch für uns noch lehrreich, in seiner Vorbildfunktion erkennbar sein soll. Wie aber wäre es, wenn Goethe kein Beispiel für irgendetwas und erst recht kein Vorbild ist – sondern zunächst einmal eine ziemlich solitäre und an bestimmte historische Voraussetzungen gebundene Erscheinung, von der eben kein gerader Weg zu uns führt?
Steinfeld wählt den üblichen chronikalischen Zugriff – von der Frankfurter Wiege bis zur Weimarer Bahre, bricht dieses Kontinuum aber immer wieder durch thematische Fokussierungen auf. So fällt etwa auf die mehr oder weniger tragische Existenz des Sohnes Augusts erst ein ausführlicher Blick anlässlich seines Todes im Oktober 1830 in Rom. Vergleichsweise einlässlich, wenn auch ohne Drang nach Vollständigkeit, gelangt das dichterische wie das „wissenschaftliche“ Werk zur Darstellung. Form- und gattungssprengende Produktionen wie „Faust II“ und die „Wanderjahre“ werden in ihren leerstellenreichen Rätselfiguren, ihrer Sprödigkeit gegen verlässliche Deutung vors Leserauge gerückt.
Und eine genauere Analyse des Verhältnisses von „Dichtung“ und „Wahrheit“ in den autobiografischen Schriften zeigt die Neigung zur stilisierenden Mythenbildung für die Nachwelt bereits in der konzeptionellen Grundlage. Goethes Befassung mit den Naturwissenschaften schließlich formiert sich bei Steinfeld zu einem Bildungsweg eigener Art: von der Steinen über die Pflanzen und die Farben zu den Wolken. Fast eine Vorwegnahme dessen, was in der „Bergschluchten“-Szene am Schluss von „Faust II“ mit ihrem Zug fortschreitender Sublimierung und Entmaterialisierung als kompaktes Kondensat erscheint.
Goethes Weimar war nicht die Idylle, zu der die Nachwelt es gemacht hat
Schließlich ist der Buch-Untertitel „Bild einer Zeit“ ernst zu nehmen: Der Verfasser stellt Goethes so oder so imposant-faszinierende Erscheinung in den Kontext einer sich rasant wandelnden zeitgenössischen Lebenswelt. Da geht es um die Ablösung einer alchemistischen Naturmystik durch die modernen Naturwissenschaften genauso wie um den Sturz der politischen Verhältnisse durch die Französische Revolution und ihre Folgen sowie die Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsformen. Dass Weimar im späten 18. Jahrhundert alles andere als eine Idylle war und die Gloriole nicht verdient, mit der es die Nachwelt umgab – Steinfeld beschreibt es nachdrücklich in einer der besten Erzählstrecken des Buches.
Und Goethe als „Persönlichkeit“ (deren „unangenehme“ Züge, etwa die teils verletzende Kälte gegenüber seiner menschlichen Umgebung, keineswegs verschwiegen werden)? Auch hier unterscheidet der Autor angemessen zwischen Mythos und Realität. Die Selbstdefinition im Licht einer angeblich harmonischen Entfaltung vom Keim bis zur Blüte – sie holt die Realität dieses Lebens mit seinen Aspekten auch des Scheiterns, des Unglücks, der Versagung nicht ein.
Steinfeld – es sei wiederholt – betet nicht an, aber er würdigt auch nicht herab, hält vielmehr die Mitte einer wohltuenden Nüchternheit, in der die Dinge ohne Ideologie-Brimborium beim Namen genannt werden. Die Frage, ob es jetzt dieses Buch wirklich „braucht“, ist so naheliegend wie wohlfeil – man kann sie eigentlich immer stellen und zumal dann, wenn der Autor keine neuen Quellen präsentiert und seine Deutung das etablierte Goethebild auch nicht grundlegend verändert. Wie beschrieben, sind es die Einzelheiten, an denen sich je nachdem neue Zugänge und Perspektiven ergeben.
Mit einem Textteil von 720 Seiten scheint das Werk üppig geraten, ist dies aber angesichts der unübersehbaren Fülle des zu verarbeitenden Materials sicherlich nicht. Dass man leicht ins Uferlose gerät, wenn man tief hinab in den Keller der Details zu steigen gewillt ist, zeigt das Biografie-Projekt des britischen Germanisten Nicholas Boyle, der mit dem dritten Band seines Monumentalwerks immer noch auf sich warten lässt. Nein, Steinfeld macht es kürzer, konziser, bringt auch den Mut auf, viele Dinge wegzulassen. Der Darstellung dürfte all das zugutegekommen sein.
Und nicht zuletzt erfreut das Buch des früheren FAZ- und SZ-Redakteurs durch einen geschmeidigen, von unprätentiöser Eleganz getragenen Stil. Steinfeld schreibt erkennbar – so etwa, wenn er sich nicht zu schade dafür ist, Goethes Symbol- und Allegoriebegriff zu erläutern – für ein breites interessiertes Publikum, nicht für literaturwissenschaftliche Fachzirkel. Das aber geht nie zulasten von Differenzierung und Reflexionshöhe. Die Frage „Warum dieser neue Goethe?“ – der Leser vergisst sie über der Lektüre.
Thomas Steinfeld: „Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit“, Rowohlt Berlin, 784 Seiten, 38 Euro