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Neuer „Joker“-FilmSo radikal torpediert Regisseur Todd Phillips seinen eigenen Welterfolg

Lesezeit 5 Minuten
Drei Gefängnisaufseher schleppen einen sich heftig wehrenden Joaquin Phoenix im Joker-Kostüm durch einen Gang zwischen Maschendrahtzäunen zu seiner Zelle zurück.

Joaquin Phoenix (Mitte) und Brendan Gleeson (dahinter) in „Joker: Folie à Deux“

Mit „Joker: Folie à Deux“ entzaubert Todd Phillips den charismatischen Incel-Helden seines Welterfolges – Das hat so zuvor noch kein anderer Regisseur gewagt.

Als vor fünf Jahren Todd Philipps Film „Joker“ in die Kinos kam, befürchteten US-Behörden Aufstände und Amokläufe. Das FBI und das Ministerium für Innere Sicherheit ermittelten, die Armee warnte vor Gewaltausbrüchen und verwies explizit auf die Beliebtheit des Jokers in der Incel-Gemeinschaft.

„Incel“ ist ein Kofferwort aus „involuntary celibate“, gemeint sind unfreiwillig zölibatär lebende Männer. Die Incel-Kulur entwickelte sich aus einem Internetforum, das eine Studentin aus Kanada 1997 gegründet hatte, um ihre Schüchternheit und die daraus resultierende sexuelle Inaktivität mit anderen anonymen Teilnehmern zu diskutieren. Als sich die junge Frau zurückzog, degenerierte das inklusiv angelegte Projekt zur Beschwerdestelle für weiße, heterosexuelle Männer. Die begriffen sich selbst als marginalisiert und machten die woke Linke, Nicht-Weiße, den Feminismus oder Frauen ganz allgemein für ihren jungfräulichen Status verantwortlich. Selbstmitleid schlug in blanken Hass um. Der wiederum kulminierte in einem guten Dutzend ideologiegetriebener Amokattacken: Junge Männer töteten gezielt Frauen und hinterließen Manifeste, in denen sie sich als Incel identifizierten.

Warum selbst die US-Armee Joaquin Phoenix' Joker für gefährlich hielt

Auch während einer Mitternachtsvorstellung von Christopher Nolans drittem Batman-Film „The Dark Knight Rises“ hatte ein junger verwirrter Mittzwanziger in die Menge geschossen, zwölf Menschen getötet und 70 verletzt. Verbindungen zur Incel-Subkultur hatte der jedoch keine und auch hartnäckige Gerüchte, nach denen er sich als Joker verkleidet hatte, erwiesen sich als unbegründet. Zudem hatten die Incels mit David Finchers „Fight Club“ bereits einen Lieblingsfilm gefunden, der fragile Männlichkeit mit Allmachtsfantasien und dem Leiden am Ist-Zustand der Gesellschaft verknüpfte.

Trotzdem schien Phillips „Joker“ wie für die Community gemacht: Joaquin Phoenix spielte den Batman-Bösewicht als ultimativen Loser namens Arthur Fleck, einen Aussätzigen, den seine offenkundige psychische Krankheit dazu befähigt, die Krisenhaftigkeit seiner Umgebung zu erspüren und ihr mittels schockierender Gewalttaten einen Ausdruck zu verleihen. „Liegt es an mir, oder wird das da draußen immer verrückter?“, fragt Phoenix' trauriger Clown seine Sozialarbeiterin.

Robert De Niros Charaktere in „Taxi Driver“ und „The King of Comedy“ wirken wie Ur-Incels

Die Idee vom Joker als gescheiterten Stand-up-Comedian, der die ganze Welt zum schlechten Witz erklärt, übernahm Phillips aus Alan Moores berühmt-berüchtigter Batman-Story „The Killing Joke“, die Form borgte er sich von Martin Scorseses großen Abgesängen auf das kaputte New York der 1970er und frühen 80er Jahre aus, „Taxi Driver“ und „The King of Comedy“. In denen wirken Robert De Niros Charaktere – aus heutiger Sicht betrachtet – tatsächlich wie Ur-Incels. Die Zeitläufte allerdings waren 2019 völlig andere als 1976 oder 1982: Die Trump-Regierung legitimierte den Hass der Alt-Right, der jungen Rechtsextremen, der Frauenhasser und Rassisten von oben. Als Neonazis durch Charlottesville in Virginia zogen und eine Gegendemonstrantin ermordeten, erkannte der US-Präsident in ihnen „einige sehr gute Menschen“.

Weshalb nicht nur die US-Armee, sondern auch viele Kritiker im Vorfeld des Filmstarts von „Joker“ ihre Sorge äußerten, dass die „wütenden, paranoiden, emotional instabilen jungen Männer Amerikas“ in Phoenix' Joker sich selbst erkennen könnten und ausrufen: „Endlich versteht mich jemand!“ (so stand es etwa im „National Review“). Die befürchtete Gewalt blieb aus, der Film aber erwies sich als Kassen-Phänomen und spielte trotz fehlender Jugendfreigabe mehr als eine Milliarde Dollar ein. Damit war eine Fortsetzung beschlossene Sache.

In „Joker: Folie à Deux“ tritt Lady Gaga als Fangirl Harley Quinn in das Leben des inhaftierten Jokers, der Incel-König hat jetzt eine Freundin. Aber so schlicht lässt sich der Film dann doch nicht beschreiben. Hatte Todd Philipps 2019 noch äußerst dünnhäutig auf negative Besprechungen reagiert, gegen Wokeness und „extrem linke“ Kritiker gewettert und Journalisten von der Premiere ausgeschlossen, dekonstruiert, um nicht zu sagen: torpediert, er in „Folie à Deux“ das eigene Werk mit beispielloser Konsequenz.

Im neuen Film – es folgen Spoiler – begegnen wir Arthur Fleck als fast katatonischem Insassen des Arkham Asylums. Joaquin Phoenix' schockierend ausgemergelte Physis – er sieht aus wie ein laufender Sack Geodreiecke – erzählt bereits alles: Hier schleppt sich ein kaum noch vorhandenes Häufchen Mensch durch seine letzten Tage.

Hoffnung schöpft er erst wieder, als er in der Musiktherapie auf die Mitpatientin Lee Quinzel trifft, Hoffnung verheißen auch die Musicalnummern, die hauptsächlich in der Vorstellung des Ex-Jokers stattfinden. Phillips zitiert unter anderem Jacques Demys „Die Regenschirme von Cherbourg“ und Vincente Minnellis „Vorhang auf!“, aber niemand käme hier auf die Idee zu sagen, „that's entertainment!“. Eher schon stand Scorseses großer Flop „New York, New York“ Pate: Phoenix singt schrecklich, Gaga sehr viel besser, aber sie sieht in ihm ausschließlich den rechten Chaosagenten gegen das System, sie will die Persona und nicht das arme Würstchen dahinter.

Und der Verliebte versucht zu liefern, er feuert seine Anwältin im Mordprozess, vertritt sich selbst im Joker-Kostüm. Aber Philipps verweigert ihm das mitreißende Plädoyer, die unerwartete Wendung im Kreuzverhör. Er ruft die Genres auf, das Musical, den Gerichts- oder Gefängnisfilm, aber sie zahlen sich nicht aus: Die Tanznummern verharren schlaff am Boden, der Gerichtssaal bleibt grau, die Wärter sind brutal, doch die Insassen nicht besser.

Vor dem Gerichtsgebäude demonstrieren die Joker-Incels. Als sie eine Außenwand sprengen und versuchen, ihren vermeintlichen Anführer in Sicherheit zu bringen, flieht der vor seinen Anhängern. „Joker: Folie à Deux“ ist kein schöner Film, nicht einmal ein besonders guter. Doch für ihren Mut zur Selbstdemontage muss man Phillips und Phoenix bewundern: Ihnen ist gelungen, woran Batman seit 85 Jahren scheitert, sie haben das Charisma des Jokers geraubt und eine verlorene Kreatur zurückgelassen, einen amerikanischen Woyzeck.