Hayao Miyazaki gilt als der beste Zeichentrickfilmer der Welt. Jetzt verabschiedet er sich mit einem Meisterwerk.
Neues Miyazaki-AbenteuerIst „Der Junge und der Reiher“ der letzte handgezeichnete Trickfilm?
Voller Stolz präsentiert ein Team von Programmierern Hayao Miyazaki, dem Meister des Animes, die ersten Ergebnisse eines Animationsprogramms. Das wird von einer künstlichen Intelligenz gesteuert. Zu sehen ist ein menschenähnlicher Körper, der schlangenartig über ein Schachbrettmuster kriecht und dabei seinen Kopf als fünftes Gliedmaße zu Hilfe nimmt. Grotesk sieht das aus. Die KI fühle keinen Schmerz, erläutern die Programmierer. Dass man den Kopf schützen müsste, verstehe sie nicht. Aber vielleicht ließe es sich ja für Zombie-Computerspiele einsetzen?
Miyazaki hält mit Kritik nicht zurück. „Ich bin zutiefst angewidert“, tadelt er. „Ich würde diese Technologie niemals in meiner Arbeit einsetzen. Ich bin davon überzeugt, dass sie eine Beleidigung für das Leben selbst ist.“ Die Kamera schwenkt auf die Gescholtenen, sie scheinen den Tränen nahe. In Japan gilt Hayao Miyazaki als Nationalheiligtum, seinen Angestellten ist er ein strenger Lehrherr. Seine Filme und Figuren sind tief in der Psyche des Landes – und längst auch der restlichen Welt – verankert: der kuschelige, aber ehrfurchtgebietende Waldgeist Totoro, die junge Hexe-in-Ausbildung Kiki, der einsame Geist Ohngesicht und Porco Rosso, das in ein Schwein verwandelte Weltkriegs-Flieger-As.
Die geschilderte Szene kann man sich auf Youtube ansehen, sie fand vor rund sieben Jahren statt, als sich der rastlose Miyazaki gerade aus dem Ruhestand verabschiedet hatte, um seine legendäre Zeichentrickfilm-Firma, das Studio Ghibli, zu reaktivieren und dessen wahrscheinlich letzten abendfüllenden Spielfilm zu produzieren, sein künstlerisches Vermächtnis.
Der Film ist nun unter dem Titel „Der Junge und der Reiher“ in den deutschen Kinos angelaufen und zeigt noch einmal eindrucksvoll, warum die Wunderwelten des 83-Jährigen als unerreicht gelten: „Immer wenn wir bei Pixar oder Disney nicht weiterkommen“, lobte vor zehn Jahren John Lasseter, damals künstlerischer Leiter beider Studios, „lege ich ein oder zwei Miyazaki-Filmsequenzen ein, um uns wieder zu inspirieren.“
Man findet im neuen Anime viele aus der Ghibli-Filmografie bekannte Motive: Kleine weiße Seelenwesen erinnern an die Baumgeister aus „Prinzessin Mononoke“, vom Wind erfasste Papierschnipsel erweisen sich hier als ebenso gefährlich wie in „Chihiros Reise ins Zauberland“, die riesigen, Menschen fressenden Sittiche tragen im Gefieder dasselbe Muster wie Totoro – und in den Cockpithauben, die der Vater, ein Flugzeug- und Waffenfabrikant, auf dem elterlichen Anwesen zwischenlagert, erkennt man die asselartigen Ohmu aus „Nausicaä aus dem Tal der Winde“, dem Film, dessen Erfolg das Studio Ghibli auf den Weg brachte.
Schon in „Chihiros Reise ins Zauberland“ hatte sich Miyazaki als Baumeister seiner Welten gezeigt
Auch thematisch schließt „Der Junge und der Reihe“ nahtlos an Miyazakis Werk an, die Bezüge zum Leben des Zeichners stechen diesmal, im Gewand des Kunstmärchens, noch sehr viel klarer heraus: die abwesende Mutter (hier Opfer eines Bombenangriffs auf Tokio), das Exil auf dem Land, die Flugzeugfabrik des Vaters, der unwiderstehliche Lockruf — in Gestalt des titelgebenden Graureihers — einer fantastischen Gegenwelt. Wie schon in „Chihiro“, wo sich Miyazaki als spinnenartiger Heizer des magischen Badehauses verewigt hat, hält er auch im neuen Film als Weltenbaumeister alle Fäden in der Hand und sucht, genau wie sein reales Vorbild, vergeblich nach einem Nachfolger. Es hat sieben Jahre unermüdlicher Arbeit gedauert, bis „Der Junge und der Graureiher“ fertiggestellt war. Wenn sich Hayo Miyazaki nicht noch mit über 90 Jahren über den Zeichentisch beugen will, markiert „Der Junge... “ einen Endpunkt in der Filmgeschichte.
Während Disney mit „Küss den Frosch“ und „Winnie Puuh“ seine letzten handgezeichneten Animationsfilme bereits 2009 und 2011 veröffentlicht hat, konnte sich die Tradition des 2D-Zeichentrickfilms, der (fast) nur mithilfe von Stift, Zelluloidfolie und gemaltem Hintergrund realisiert wird, in Japan bis heute halten.
Der Zauber von Hayao Miyazakis Filmen liegt im Detail
Schon lange nutzt man auch hier für bestimmte Szenen Computertechnik, selbst das Studio Ghibli. Doch was bislang nur als Unterstützung gedacht war, beginnt nun die händische Technik und den flachen Look japanischer Animes immer stärker zu verdrängen, weg vom Malerischen, hin zur Dynamik eines Computerspiels.
„Der Junge und der Heron“ betont dagegen immer wieder seine Zweidimensionalität — Karpfen, die mit ihren hungrigen Mäulern aus dem Wasser ragen, bilden ein M.C. Escher-Muster — und seine Wurzeln in der Malerei – ein Druck von Millets „Sämann“ ziert eine Buchseite, die Säulen im Vorraum des Weltenbaumeisters zitieren Giorgio de Chiricos metaphysische Arkaden.
Für Miyazaki nimmt der Animator eine gottgleiche Position ein, indem er unbewegten Strichen Leben einhaucht. Der Zauber seiner Filme liegt im Detail, darin, wie die brennende Luft beim Bombenangriff die Umrisse der Körper verzerrt, wie sich eine Matratze wölbt, auf die sich ein erschöpfter Junge wirft, oder wie sich ein scharf um die Kurve gesteuerter Datsun 17 aufbäumt, als wohne ihm ein lustiger Dämon inne.
Um so animieren zu können, muss man ein Leben lang offenen Auges durch die Welt gegangen sein. Da verwundert es nicht, dass Hayao Miyazaki bislang keinen Thronfolger für sein Studio gefunden hat. Eine Künstliche Intelligenz kann ihn jedenfalls nicht ersetzen, wo die Zombieköpfe übers Schachbrett zieht, feiert er den Geist in jedem Ding.