Autor Michael Kleeberg legt mit „Dämmerung“ den dritten und letzten Roman um seinen Alltagshelden Karlmann vor.
Neuer Roman von Michael KleebergVom Mittelstand aufs Abstellgleis
Was wird aus dem Helden, wenn die Abenteuer überstanden, die Heimat wieder erreicht und der Alltag eingekehrt ist? Ist die dann einsetzende Routine gut für einen Roman? Natürlich, sagt Michael Kleeberg. Schon 2007 hat der mehrfach ausgezeichnete Autor seinen postheroischen Alltagshelden „Karlmann“ auf eine Reise in den deutschen Mittelstand geschickt, dorthin, wo nicht Aufregung und Ausnahme, sondern Gleichmaß und Regel herrschen.
Der gleichnamige Roman erzählte von Karlmann „Charly“ Renns Golf-, Liebes- und Berufserfolgen in den 1980er Jahren. 2014 folgte die Fortsetzung, „Vaterjahre“, in der Charlys Ausdauer in Familie, Freundschaft und Geschäft gefragt ist.
„Dämmerung“ ist der dritte Teil der Romanreihe. Es ist ein wunderbar würdiger Abschluss, der uns frappante Einsichten und tragikomische Überraschungen beschert. Ein Feuerwerk ist allein schon der epische Auftakt: Wir sehen Charly nicht bei seiner Hochzeit, nicht bei seiner kleinen Tochter wie in den vorherigen Romanen. Sondern bei der Feier zu seinem 60. Geburtstag.
Michael Kleebergs Charly ist ein alternder Lebenskünstler
Anlass genug, um die alten Garden aufmarschieren zu lassen. Die Freunde Kai und Thommy streiten sich um die bessere Festrede, die früheren Geliebten Ines und Meret um die besseren Erinnerungen, Charlys Schwester und seine aktuelle Partnerin um Charlys dementen Vater, der aber nicht viel mitbekommt von der Party. Charly selbst dirigiert seine Feier, etwas ehrpusselig, bemüht um „Fokussierung und Gleichklang“, aber auch um „Korpsgeist, durch Beeindruckung, durch Erniedrigung“.
Was diesem seelengesprenkelten Künstler des eigenen Lebens derart an Sympathie abgeht, holt sein Erzähler auf ebenso heitere wie abwägende Weise wieder ein. Kleeberg stellt diesen Erzähler als unsichtbaren Beobachter und beredten Zeugen mitten ins Geschehen. Man kann ihn als Gewissen der Figur verstehen, als auktoriale Stimme oder als eine Art posthomerischen Rhapsoden, der vom heimgekehrten Helden im „Gestell der Gewöhnung“ an Alltag und Alter zu erzählen hat.
Globalisierung, Corona, MeToo: dem deutschen Mann bleibt nichts erspart
Und diese Prüfungen haben es in sich. Im Bunde mit seinem Erzähler führt Kleeberg Charly ganz nah heran an die Abbruchkanten der Gegenwart. Im zweiten Kapitel „Dornröschenzeit“ sitzt Charly in der Pandemie gefangen und rettet sich mit einem Personal Trainer, im dritten bestehen die Prüfungen in Sterbehilfe und Warten auf den Tod des 87-jährigen Vaters. Und wenn es im vierten Kapitel um „Deconstructing Charly“ geht, hat er als Folge der Globalisierung seinen Job bei der hanseatischen Firma verloren – und seine Freundin „pH 5“, die er leporellohaft durchzählt, „post Heike“: nach der Mutter seiner Kinder.
Doch Kleebergs Held wäre kein Lebenskünstler, hätte er nicht seine Visionen bewahrt. Im Haus des Vaters frischt er den Kontakt zu seinen Kindern auf, im neuen Job als Geschäftsführer des Lessinghauses reaktiviert er seine Ex Ines und sammelt bei einer Spendengala 600.000 Euro zugunsten medizinischer Soforthilfe für die ukrainischen Kriegsopfer.
Und dann lässt ihn der Erzähler los. In einer ziemlich undurchsichtigen MeToo-Debatte verliert Charly Renn, für den die Grenzen zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit fließend sind, seinen Job. Aber nicht seinen Lebenswitz. Französischlernen und Motorradfahren in Patagonien stehen ja noch auf seiner Löffelliste, auch ein Umzug in die Schweiz.
Am Ende ist Kleebergs Held aus der Zeit gefallen, deren Kind er ist: zu jung fürs Altenteil, zu alt, um vom Radar der wellenschlagenden Gegenwart noch erfasst zu werden. Kleebergs Karlmann ist ein Held der Dämmerung, ein Kämpfer für verlorene Sachen, eine verblassende Epochenfigur ohne Wehmut. Ein faszinierender, fabelfroher Epochenroman, der die Zeit in die Geschichte zurückholt.
Michael Kleeberg: „Dämmerung“, Penguin Verlag, 480 Seiten, 26 Euro