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Neues AlbumVerabschiedet sich The Weeknd mit „Dawn FM“?

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The Weeknd, künstlich gealtert fürs Album-Cover 

Los Angeles – Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein: Treffender als mit dem Nietzsche-Zitat kann man das künstlerische Konzept von The Weeknd – der Persona des kanadischen Musikers Abel Makkonen Tesfaye – kaum beschreiben. „Ich starre in den Abgrund/ Ich schaue wieder auf mich selbst“, singt er in „Gasoline“, dem ersten Song seines just veröffentlichten Albums „Dawn FM“. Die Morgendämmerung ist die Zeit der Abrechnung: „Es ist 5 Uhr morgens, ich bin Nihilist/ Ich weiß, dass es danach nichts mehr gibt.“

Die Grundpfeiler dieser Persona standen bereits 2011, als „House of Ballons“, das erste Mixtape des damals noch völlig anonym agierenden Sängers, erschien. Drogen, Partys, anonymer Sex, Selbsthass und Einsamkeit. Der moderne R’n’B hatte seinen Poète maudit gefunden.

Einer, der all die Substanzen, von denen er sang, auch wirklich geschluckt hatte. Einer, den der Abgrund als einen der seinen erkannt und zum Botschafter ernannt hatte, um der Welt von der Warenform der Jugend zu künden. Verpacken, aufreißen, verschwenden, wegwerfen: The Weeknd sampelte Goth-Bands der 1980er wie Siouxsie & The Banshees oder die Cocteau Twins um die Schattenseiten der Welt glattzüngiger R’n’B-Musik auszuleuchten. Seine Songs waren böse Blumen in einer hedonistischen Welt, jenseits von Gut und Böse.

Kokettieren mit Kaputtheit

Das war von Anfang an sehr überzeugend, man spürte die echte Dunkelheit hinter dem Kokettieren mit der eigenen Kaputtheit. Freilich niemand konnte damit rechnen, dass Tesfaye zehn Jahre später der erfolgreichste männliche Popstar seiner Zeit sein würde. Den Mainstream hat er bereits 2015 mit seinem zweiten Album „Beauty Behind the Madness“ und dessen dritter Single „Can‘t Feel My Face“ erreicht, Grundschulkinder tanzten zu einem Song über Gesichtslähmung nach Kokain-Missbrauch.

„After Hours“, das 2020 erschienene fünfte Studioalbum, katapultierte The Weeknd endgültig auf den Olymp. Vergangenen Februar bestritt er die Halbzeitshow des Super Bowls. Seine Single „Blinding Lights“ hielt sich 90 Wochen lang in der Billboard-Charts, im November 2021 überholte sie Chubby Checkers „Let’s Twist Again“ als erfolgreichster Song seit Beginn der Single-Hitparade.

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The Weeknd, ungeschminkt

In der Regel ist das der Punkt, an dem ein Künstler den Faden verliert. Entweder er zieht sich aus der Öffentlichkeit zurück, vergräbt sich so lange im Studio, bis der Zeitgeist an ihm vorüber gezogen ist. Oder er beginnt sich zu wiederholen, mit abnehmenden Renditen. Wenn uns Tesfaye nun auf dem Cover seines neuen Albums „Dawn FM“ als vorzeitig gealterter und ergrauter Versorgungsfall ausgebrannt entgegenblickt, scheint diese Maskerade auf eine grundsätzliche Erschöpfung hinzuweisen, als wären die Jahre im Rampenlicht Hundejahre. Dabei ist er erst 31.

Noch dazu hat er dem Album ein loses Konzept übergestülpt, der Hörer findet sich in einer Art frühmorgendlichen Fegefeuer wieder, die reinigenden Höllenqualen werden von Jim Carrey als Radiojockey des Senders Dawn FM moderiert, der immer wieder dazu auffordert, ihm ins Licht zu folgen. Ob mit lauterer oder hinterlistiger Absicht, das wird nie ganz klar. Der Hollywood-Komiker bewohnt die angrenzende Villa in Bel Air, angeblich beobachten sich er und Tesfaye desnachts mit ihren Teleskopen und winken sich zu. Ein besseres Bild für die Einsamkeit des Erfolgs könnte man kaum erfinden.

Rezept fürs Scheitern

Das alles klingt nach einem Rezept fürs Scheitern im großen Stil. Stattdessen hat sich The Weeknd hier noch einmal, vielleicht ein letztes Mal übertroffen. „Dawn FM“ ist ein Pop-Meisterstück. Verführerisch, glatt und von geradezu unverschämt melodiösem Reichtum. Tesfaye zieht die Summe seiner Einflüsse, zitiert Elektro-Pioniere von Kraftwerk bis Giorgio Moroder, von Jean-Michel Jarre bis Daft Punk, mit denen er vor sechs Jahren seinen Hit „Starboy“ komponiert hatte. Auf „Dawn FM“ arbeitet er mit der schwedischen Hit-Maschine Max Martin und dem US-Avantgarde-Elektroniker Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never zusammen – eine ungewöhnliche Kombination, aber sie funktioniert.

Und über allem schwebt der Geist Michael Jacksons. Hätte der Popkönig seine innere Verkorkstheit offen in seiner Kunst thematisiert, wäre ein Album wie „Dawn FM“ dabei herausgekommen.

So offensichtlich die Einflüsse sind, Tesfaye nutzt sie souverän für seine Erzählung. Daft Punk haben auf ihrer Jackson-Hommage „Random Access Memories“ Giorgio Moroders Lebenserinnerungen vertont, Tesfaye ist es gelungen, Quincy Jones ins Studio zu locken. Der 88-jährige Produzent von „Off the Wall“ und „Thriller“ kaut keine sattsam bekannten Erfolge durch, sondern erzählt in „A Tale by Quincy“ die schreckliche Geschichte seiner Mutter, die vor den Augen des siebenjährigen Sohnes in die Nervenheilanstalt verfrachtet wurde. Und er erzählt auch, wie fatal sich das mutterlose Aufwachsen auf seine späteren Beziehungen ausgewirkt hat. Was wiederum die Bindungsängste Tesfayes spiegelt, der vaterlos aufgewachsen ist.

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Deswegen also erlebt er seine eigenen Beziehungen als ein Nullsummenspiel der Zärtlichkeit, wie er es im eingangs erwähnten „Gasoline“ beschreibt. Deswegen liegt seine emotionale Temperatur unter dem Gefrierpunkt, wie er in „Less Than Zero“ singt. Nur: Warum verstellt er im ersten Song seine Stimme zu einem Knödeln wie einst Bob Dylan auf „Nashville Skyline“ (noch dazu mit britischem Akzent)? Warum zitiert er mit „Less Than Zero“ Bret Easton Ellis‘ Romandebüt, dessen junger, abgestumpfter Protagonist zwischen Drogen, Partys, anonymen Sex mäandert wie sein eigenes Alter Ego seit 2011?

Wohl doch, weil er hier durch sein eigenes Fegefeuer geht, die alten Sünden noch einmal als Phantomschmerzen durchlebt. Weil The Weeknd sterben muss, damit Abel Tesfaye leben kann. „Der Himmel gehört denjenigen, die vom Bedauern ablassen“, orakelt Jim Carrey im letzten Track.