Neues Tocotronic-AlbumDie unaufpeppbare Tiefkühlpizza
Berlin – Hand aufs Herz, zwei Schwurfinger in die Höhe: So zeigte einst Käthe Kollwitz ihren friedensbewegten Jugendlichen, die Haare wehend im „Wind of Change“. „Nie wieder Krieg“, die Parole vom nicht lange nach dem 1. Weltkrieg entstandenen Plakat, haben sich Tocotronic für den Titel ihres 13. Studioalbums entliehen. Das beginnt auch gleich mit dem Titelstück, in angemessen getragenem Tempo.
Aber was singt Dirk von Lowtzow denn da? „Ein Coupon von Sanifair/ Gleitet in die Hand als er/ Durch das Drehkreuz geht/ Sich gegenüber steht/ Und in den Spiegel schreit:/ Nie wieder Krieg“. Man beachte das gekonnte Enjambement. Der Krieg, der hier in der Toilettenanlage einer Autobahn oder eines Bahnhofes sein Ende herbeisehnt, ist der des Menschen gegen sich selbst. Und es ist eben diese zischelnd angehauchte Erwähnung der Firma „Sanifair“ die der hohlen Pathosformel neue Kraft verleiht.
In der Verbreitung griffiger Slogans waren Tocotronic in ihren Anfangsjahren nicht weniger erfolgreich als Kollwitz. Man muss die nicht noch einmal zitieren. Im ersten Jahr der Pandemie hat sich jemand die Mühe gemacht, einen Twitter-Account einzurichten, der ausgewählt kluge Zeilen von Lowtzows in Tweets verwandelt. In ihrer Anhäufung lässt sich gut nachvollziehen, wie aus aufmüpfigen Bonmots subtile Rätselworte wurden.
30 Jahre Tocotronic
Man kann auch schlicht dem am Freitag erscheinenden Album lauschen, denn das fasst beinahe sämtliche Aspekte der bald 30-jährigen Bandgeschichte zusammen. Es geht vielleicht nicht mehr vorwärts, aber Tocotronic weigern sich weiterhin beharrlich, einen minderwertigen oder auch nur halbguten Tonträger einzuspielen. Wie viel anderen Bands ist das über so lange Zeit gelungen?
Hier findet sich mit „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“ noch einmal ein punkiges Schrammel-Stück, das der pogenden Masse eine Richtung gibt. Auch diesmal will der Protagonist Teil einer Jugendbewegung sein, er kann es nur nicht mehr: Mittlerweile haben alle vier Mitglieder der Band die 50 überschritten. Und der klapprig-fahrige Sound von „Digital ist besser“ ist einer nicht unangenehmen metallischen Schwere gewichen.
Aber ebenso begegnet man den Streicherkaskaden aus der „Schall & Wahn“-Zeit, dem beinahe schon gefälligen Verliebtheits-Pop der beiden selbstbetitelten Alben, des weißen und des roten, und auch dem Orff’schen Geklöppel der vorangegangenen, autobiografischen Platte „Die Unendlichkeit“.
Angeblich erzählen auch die Lieder auf „Nie wieder Krieg“, hört man sie in der vorgegebenen Reihenfolge, eine Geschichte, jedenfalls folgt auf „Ich gehe unter“ – „Das ist ein Hilfeschrei/ Es gibt mich immer noch“ – prompt der Song „Ich tauche auf“ und auf den „Crash“ die Beruhigung, dass der Protagonist nur „Leicht lädiert“ ist. Letzteres Stück enthält auch die Warnung: „Ihr sollt euch keinen Songtext aufschwatzen lassen.“
Der Hass vorm Tiefkühlfach
Tatsächlich beschreibt der Spannungsbogen eher das wellenhafte Auf und Ab des Alltags. Von der politischen Aktion zur spinnerten Weltflucht. Vom Aufblühen der Liebe zum einsamen Hass des Verlassenen vorm Tiefkühlfach. Garniert mit den lustigsten Zeilen, die von Lowtzow seit seinen Lausbuben-Jahren geschrieben hat: „Dort liegt eine Pizza/ Die ich aufzupeppen versuche/ Mit Kräutern der Provence/ Hab ich keine Chance“.
Es gibt auch Neues zu berichten: Etwa, dass Rick McPhails Gitarre nie sehnsüchtiger klang. Oder dass „Nie wieder Krieg“ das allererste Duett im Tocotronic-Oeuvre enthält, und was für eines: Anja Plaschg alias Soap & Skin gibt auf „Ich tauche auf“ eine im Wasserschlund hausende Undine, die ihrem Liebhaber keine Luft zum Atmen lässt. Übrigens eher mit glasklarer als verführerischer Stimme, von den Männerphantasien der Romantik haben sich Tocotronic ja nie einspinnen lassen.
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Das Ende des Albums gibt sich versöhnlich: Mit „Hoffnung“ und „Liebe“. Ersteres hatten Tocotronic als „ein kleines Stück lyrics and music gegen die Vereinzelung“ bereits zum ersten Lockdown vor zwei Jahren veröffentlicht. Letzteres wendet sich hoffnungsvoll an die Hörer: „Spürt ihr nicht die Liebe?“ Was die Liebe möglich machen kann? Zum Beispiel, dass sie dich „vereint, mit deinem inneren Feind“. Dann wäre wirklich nie wieder Krieg.
„Nie wieder Krieg“ erscheint am Freitag bei Universal Music