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Nobelpreis für LiteraturDiesmal ist der Gewinner einer der Favoriten

Lesezeit 5 Minuten
Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse posiert für ein Foto in Stockholm. Er hat lange weiße Haare, die er sich hinten zusammengebunden hat, einen Bart, und trägt einen braunen gepunkteten Schal.

Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse erhält den Nobelpreis für Literatur.

Der Nobelpreis für Literatur 2023 geht an den Autor Jon Fosse. Er ist ein Wunderkind der norwegischen Literatur.

Von „Schreiben als Form des Gebetes“ spricht eine von Kafkas späten Aufzeichnungen. Als religiös musikalisch und literarisch hochinnovativ gelten die Werke von Jon Fosse schon seit langem. Nun empfängt der 1959 in Norwegen geborene Autor den Literaturnobelpreis 2023. Endlich mal wieder bekommt also ein Favorit die höchste internationale Auszeichnung im Kulturbetrieb. Die Königlich Schwedische Akademie verkündete ihre Entscheidung am Donnerstag, traditionell wie immer in Stockholm.

Der aus einer protestantischen Familie stammende, später zum Katholizismus übergetretene, nach Jahren in Österreich nun in Oslo lebende Autor ist ein Wunderkind der norwegischen Literatur. Er hat 2015 den Preis des Nordischen Rates bekommen. Seine Stücke werden an weltbekannten Bühnen gespielt, in New York und Paris, an der Berliner Schaubühne, bei den Salzburger Festspielen.

Der Nobelpreis für Literatur geht an Jon Fosse

Seine Romane sind allseits anerkannt, er hat Lyrik und Kinderbücher geschrieben, Kafka, Rilke und Thomas Bernhard übersetzt. Fosse, der auch Sprachberater bei der neuen norwegischen Bibelübersetzung war, bezieht sich in seinen Dramen wie Romanen immer wieder auf die religiösen Ursprünge des Erzählens, ohne Gelehrsamkeit und konfessionelle Dogmatik. Sein Schreiben hält sich an die Form des Gebets, aber weltfromm und nicht unbedingt gläubig, stets innig, manchmal andächtig, befreit vom Beschleunigungs- und Aufbaudruck der Moderne.

Dem kommt die norwegische Fjordlandschaft, aus der Fosse stammt und in deren langen, kalten Wintern seine Geschichten spielen, sehr entgegen. Es ist ein Erzählraum der Innenschau, der Pflege von Haus und Hof, der langsamen Wege, ein Raum ohne Handys und soziale Medien, aber auch ein Ort von Vereinsamung und drohender Flucht in den Alkohol.

Der Autor wird auch als norwegischer Beckett gehandelt

Die mehr als 30 Dramen des als „norwegischer Beckett“ gehandelten Fosse, die seit den 1990er-Jahren in 50 Sprachen übersetzt sind, kommen mit wenigen Figuren aus. Sie spielen auf Friedhöfen und in heruntergekommenen Zimmern. Oder auf Parkbänken, wie in „Warten auf Godot“. Monologisch sind Fosses Dramen freilich nicht. Interessant für ihn seien „die Bilder dessen, was zwischen Menschen vorgeht, auf einer Ebene, die mit sozialer Dynamik zu tun hat, sie aber nicht verortet.“ Fosses Figuren kommen sich näher und gehen auseinander, sie tun sich weh und machen einander Freude, „sie erschaffen sich gegenseitig“.

Diese Selbsterschaffung seiner Figuren ist ein Schlüssel zu Fosses Werk, besonders zu „Der andere Name“. Unter diesem Titel sind 2019 die ersten beiden Bände einer 2021 abgeschlossenen Heptalogie erschienen, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt in ein bedachtsames, dem Adagio von Fosses Prosa angemessenes Deutsch. „Der andere Name“ entwirft mit dem Maler Asle eine Figur, den die Leser schon aus früheren Romanen kennen, aus der das siebenbändige opus magnum einleitenden „Trilogie“ (2016), deren erster Band, „Schlaflos“ (2008), eine abgekühlte Version der biblischen Weihnachtsgeschichte ist. Der Maler Asle wohnt nach dem Tod seiner Frau allein in einem kleinen Ort an der Südwestküste Norwegens. Seine wichtigsten Bezugspersonen sind der Fischer und Kleinbauer Asleik, der Galerist Beyer und der in der Stadt lebende, alkoholkranke Asle, ein Namensvetter und Berufskollege, den der erste Asle ins Krankenhaus bringt.

Der Gewinner setzt auf einfachen Humor und reduzierte Aktion

Sonst passiert nicht viel in dieser Geschichte. Umso mehr geht es um Selbstgespräch und Doppelgängertum, um Versöhnung mit dem Schicksal, um Verwurzelung in der norwegischen Heimat, um Orientierungsverlust und Zugang zu Gott, um Künstlerromane über die eigene Karriere. Aber anders als sein erfolgreicher Kollege und ehemaliger Schüler auf der Universität Bergen, Karl Ove Knausgård, schreibt Fosse keine langen Selfie-Geschichten. Stattdessen setzt er auf einfachen Humor und reduzierte Aktion, auf bodenständige Dialoge und radikale Satzbauten. Seine Romane sind ein einziger Bewusstseinsstrom. Punkte fehlen, es ist so, als ob die Sätze von Jon Fosse nicht zu Bett wollen.

Dieses unendliche Erzählen drückt eine Haltung aus, die dem Gebet vielfach ähnelt. Fosse schreibt rhythmisch und zyklisch. Er liebt Wiederholungen, die den Leser wachhalten. Seine Figur Asle hält die kleinen Horen ein, betet das Vaterunser und das Ave Maria, auf Lateinisch. Aber im privaten, nicht im kirchlichen Raum, demütig vor einer Schöpfung, die den Kontakt zu ihrem Schöpfer verloren hat. Die Geschichte des Schöpfergottes, der den Menschen so lange als böse ansah, bis er selbst Mensch wurde, gekreuzigt wurde und nach der Auferstehung von den Toten zum „lieben Gott“ wurde, ist auch die Geschichte des Menschen, der die Verbindung zu Gott gekappt und sich dem Bösen überlassen hat, aber zum Guten geboren ist.

Fosses neuer Roman heißt „Der andere Name“

Der Titel von Fosses Roman, „Der andere Name“, ist ein Name für Gott selbst. Er befeuert ein Erzählen, das notwendigerweise auf das zurückkommt, wonach der Erzähler und seine ihm ähnelnde Figur jenseits der Literatur suchen; „in der Stille ist Gott zu hören und im Unsichtbaren ist er zu sehen“, heißt es an einer Stelle.

Der Erzähler Jon Fosse ist ein Erschaffer, kein Erfinder. Er baut weder vorhandene Welten um, noch zaubert er postmoderne Welten aus dem Hut. Er formt neue Bilder. Fosse lässt seine Asle-Figur sein eigenes Bild betrachten. Es hat einen braunen und einen lila Strich, die sich in der Mitte kreuzen. Diese diagonale Anordnung der Striche kommt uns so oft entgegen, auf Flaggen und Andreaskreuzen etwa, dass ihr religiöser Ursprung gar nicht mehr bewusst ist. Fosses Romane erinnern an den christlichen Ursprung des Kreuzes. So liefern sie den roten Faden gleich mit: Asles Bilder haben, so heißt es, „auf ihre eigene Weise mit dem Reich Gottes zu tun“, in der Annäherung wie in der Abwendung. Und das gilt für alle von Jon Fosses Werken. Sie lesen, das heißt: Landschaft und Heimat, Mensch und Natur, Gesellschaft und Religion wachsam zu beobachten, auch im Zeichen multipler Krisen.