Autorin Maja Lunde im Gespräch über neue Erkenntnisse mit 40 – und warum sie glaubt, dass eine Altersbeschränkung für soziale Medien gegen den Klimawandel helfen würde.
Norwegische Bestseller-Autorin Maja Lunde„Die Natur hat die Nase voll von den Menschen“

Die norwegische Autorin Maja Lunde
Copyright: Oda Berby
Frau Lunde, in Ihrem neuen Buch „Für Immer“ bleibt für die gesamte Menschheit die Zeit stehen. Niemand stirbt mehr und niemand wird mehr geboren. Gab es für Sie einen Auslöser, sich mit der Vergänglichkeit unseres Lebens zu befassen?
Maja Lunde: Ja, die Idee kam mir tatsächlich schon vor zehn Jahren. Sie hat mich fast wie ein Blitz getroffen, als ich mitten im Nirgendwo auf einer Landstraße nach Hause gefahren bin. Ich hatte mich verfahren, weil mein Navi mir eine völlig falsche Richtung angezeigt hat. Ich war total erschöpft und hatte düsteren Gedanken. Als ich das Radio angemacht habe, lief ausgerechnet eine Sendung über den Tod. Es war im wörtlichen und übertragenen Sinne dunkel – und in dem Moment ist mir klargeworden, dass ich den Tod annehmen muss. Weil was würde passieren, wenn wir nicht sterben würden?
Damals sind Sie gerade 40 Jahre alt geworden. Hat das Ihre Gedanken über den Sinn des Lebens beeinflusst?
Ja, ich war mit der „Geschichte der Bienen“ auf Tour in Norwegen. Mein Leben hatte sich quasi über Nacht verändert – vorher nur eine anonyme Drehbuch- und Kinderbuchautorin, war ich plötzlich überall präsent. Es war surreal. Ich war verwirrt über die Richtung, die mein Leben eingeschlagen hatte, und ehrlich gesagt auch ziemlich erschöpft. Es ist ja ein Klischee, dass man mehr über den Tod nachdenkt, wenn man merkt, die Hälfte seines Lebens hinter sich zu haben. Aber genau das ist mir passiert, als ich 40 wurde. Das hat meinem Leben noch mal eine neue Dimension gegeben, mir neue Gedanken bereitet. Mir wurde bewusst, dass die zweite Hälfte immer schneller vergeht als die erste – und plötzlich fühlte ich diese unsichtbare Uhr über mir ticken.
Das Schlimmste für mich wäre, meine Kinder zurückzulassen.
Anders als Ihre vorigen ist dieses Buch vollständig fiktiv. Wie war der Schreibprozess?
Ich habe damals direkt mit dem ersten Entwurf begonnen und monatelang daran geschrieben. Gleichzeitig arbeitete ich auch an der „Geschichte des Wassers“. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich zuerst das Klimaquartett abschließen wollte und habe „Für Immer“ auf Eis gelegt. Über all die Jahre habe ich immer mal wieder an den Entwürfen gearbeitet. Es hat mir großen Spaß gemacht, mich nun noch mal mit dem Material zu beschäftigen. Jetzt, wo ich fast 50 bin, ist das Buch endlich fertig. Und es ist spielerischer und satirischer geworden als die vorigen.
Die Hauptfigur Jenny ist Mutter von zwei Kindern und hat Krebs. Sie denkt viel darüber nach, wie es für ihre Kinder ohne sie sein wird. Wie viel Maja Lunde steckt in ihr?
Sehr viel. Ich habe versucht, sie möglichst nah an meinen eigenen Gefühlen zu schreiben. Meine größte Angst ist, vor meinen Kindern zu sterben. Wenn ich jetzt sterben würde, wäre das zwar auch traurig für mich, aber noch schlimmer für sie. Das Schlimmste für mich wäre, meine Kinder zurückzulassen, was das für ihr Leben bedeuten würde, weil es einfach viel zu früh ist. Mein Jüngster ist jetzt 14, und ich merke, dass meine Kinder ihre Eltern wirklich noch viele Jahre brauchen. Ich glaube, das ist eine Angst, die sehr viele Eltern kennen.
Der Tod verleiht unserem Leben erst einen Sinn
Jenny ist nur eine von vielen Figuren im Buch. Warum erzählen Sie die Geschichte aus so vielen verschiedenen Perspektiven?
Die Figuren sind mir beim Schreiben einfach eingefallen. Ich habe mich gefragt: Wie könnte sich dieser Stillstand auf Menschen in unterschiedlichen Lebensabschnitten auswirken? Und wie können sie alle gleichzeitig Jennys Geschichte widerspiegeln? Man könnte das ganze Buch als die Geschichte von Jenny und ihrem Mann lesen, als ein Paar in verschiedenen Momenten des Lebens …
Während sich anfangs alle über die neu gewonnene Zeit freuen, machen sich irgendwann Langeweile und sogar Verzweiflung breit.
Mein Ziel beim Schreiben war es, den Tod zu akzeptieren, ihn zu umarmen. Von Anfang stand die Frage danach, was passiert, wenn der Tod verschwinden würde. Denn wäre es nicht noch schlimmer, wenn es ihn nicht gäbe? Wenn es kein Ende gäbe? Wenn man darüber nachdenkt, gibt der Tod allem eine Struktur und einen Sinn.
Und trotzdem wünschen sich viele, so lange wie möglich zu leben.
Ich habe beim Schreiben auch an diese medizinischen Experimente gedacht, bei denen Menschen ihren Körper einfrieren, in der Hoffnung, eines Tages wieder aufzuwachen und so ewig leben zu können. Was macht das mit unseren Gefühlen, Beziehungen und unserer Erinnerung? Im Roman ist der Stillstand ein Fluch im Verborgenen. Allen anderen Arten auf diesem Planeten sind Grenzen gesetzt. Es ist zwar Teil der menschlichen Natur, nach Möglichkeiten zu suchen, grenzenlos zu sein, wir müssen aber akzeptieren, dass wir diese Grenzen wirklich brauchen.
Auch Maja Lundes neues Buch dreht sich um die Beziehung von Mensch und Natur
Haben Sie darüber nachgedacht, was Sie selbst mit unendlich viel Zeit anstellen würden?
Ich wäre ziemlich schnell verzweifelt. Auch Otto ist eine Figur, die einen Teil von mir abbildet. Ich bin garten- und naturbegeistert wie er, deshalb fühle ich seine Trauer, als er seinen Garten verlassen und in ein Altersheim ziehen muss. Im Szenario des Stillstands könnte ich mich, glaube ich, wie er für die Gartenarbeit begeistern und Trost in der Kontinuität der Natur finden. Dieses Buch spiegelt ja, wie all meine Bücher, auch die Beziehung des Menschen zur Natur wider – und Otto verkörpert dieses Thema.
Während die Zeit für den Menschen stillsteht, nimmt die Natur weiter ihren Lauf. Versucht die Erde, sich von der zerstörerischen Menschheit zu befreien?
Auf jeden Fall. Es ist, als ob die Natur uns herauswirft. Sie hat die Nase voll von den Menschen. Darüber habe ich während des Schreibens viel nachgedacht.
Die Art und Weise, wie die Menschen in Ihrem Buch mit dem Stillstand umgehen, hat mich auch an Reaktionen während der Corona-Pandemie erinnert. Hatten Sie das im Hinterkopf?
Ja, denn während der Pandemie haben wir ja fast in einer dystopischen Geschichte gelebt. Wir alle haben versucht, eine neue Normalität zu finden. Selbst in den extremsten Situationen bemühen wir uns, eine Art Normalität, ein Gleichgewicht im Ungleichgewicht, zu finden.
Ich wünschte, wir würden die Klima- und Naturkrise mit der gleichen Entschlossenheit wie Sicherheit angehen.
Hat die Corona-Krise, auf die dann viele weitere folgten, die Klimakrise weniger dringend erscheinen lassen?
Um schnell zu handeln und drastische Veränderungen herbeizuführen, braucht man oft Angst – wie jetzt, wenn wir über Waffen, Schutz und militärische Expansion sprechen. Angst treibt das Handeln an. Die Pandemie hat uns Angst gemacht, also haben wir gehandelt. Gerade stehen wir in Sachen Sicherheit in den meisten europäischen Ländern zusammen und handeln schnell. Das ist ein hervorragendes Beispiel dafür, was wir erreichen können, wenn wir nur wollen. Ich wünschte, wir würden die Klima- und Naturkrise mit der gleichen Entschlossenheit angehen.
Klimaschutzmaßnahmen werden stattdessen weltweit wieder zurückgeschraubt.
Es fällt mir schwer, mir zu erklären, warum wir die Klimakrise nicht so angehen, wie wir es sollten. Denn in meinen Augen hätte es Pressekonferenzen mit Ministerpräsidenten gebraucht, die mit dem gleichen Nachdruck und der gleichen Ernsthaftigkeit über die Klima- und Naturkrise sprechen, wie wir es bei Corona und jetzt beim Thema Sicherheit sehen. Die gab es aber nicht. Ich glaube, es ist eine Mischung: Die Politiker waren nicht besorgt genug – also waren es die Menschen auch nicht. Was die Politiker diskutieren, ist auch das, womit wir uns als Öffentlichkeit beschäftigen, und umgekehrt.
Wenn wir die Klimakrise jetzt nicht lösen, ist das eine große Sicherheitskrise, die langfristig für noch mehr Kriege sorgen wird.
Was können wir tun, um das Bewusstsein für die Dringlichkeit der Klimakrise wieder zu schärfen?
Wir müssen weiter darüber reden. Wenn wir nicht handeln, werden die Probleme in Zukunft noch größer – auch unsere Sicherheitsprobleme, denn wenn wir die Klimakrise jetzt nicht lösen, ist das eine große Sicherheitskrise, die langfristig für noch mehr Kriege sorgen wird. All diese Dinge hängen zusammen – auch mit der Technologie.
Inwiefern?
Ein Grund, warum wir nicht genug über das Klima sprechen, ist, wie soziale Medien funktionieren: In kurzen Nachrichten bleibt keine Zeit für Hintergrundinformationen oder tieferes Wissen. Algorithmen entscheiden, was wir sehen und lernen, wir bekommen immer mehr von dem, was wir schon angeklickt haben, nur in einer noch extremeren Version. Deshalb werden soziale Medien manchmal auch Wutmaschinen genannt. Soziale Medien fördern eine individualistische Sichtweise: Es geht vor allem um mich, darum, die beste Version meiner selbst zu sein, um meine eigenen Bedürfnisse, nicht die der Gruppe. Unter anderem deshalb bin ich für Altersbeschränkungen für diese Plattformen. Und wir müssen kontrollieren, wie sie gestaltet sind, um uns süchtig zu machen.
Warum Algorithmen die Klimakrise beeinflussen
Eine Altersbeschränkung für soziale Medien würde helfen, den Klimawandel zu bekämpfen?
Ja, wir müssen die sozialen Medien auf eine ganz andere Art und Weise kontrollieren, als wir es jetzt tun. Menschen verlieren so viel, wenn sie algorithmusgesteuerte Inhalte sozialer Medien als Hauptinformationsquelle nutzen. Wenn die junge Generation plötzlich nicht mehr auf die Straße gehen und protestieren will, sondern nur noch ins Fitnessstudio, um besser auszusehen; wenn das alles ist, woran sie denken und was sie finden – nicht weil sie egoistisch sind, sondern weil der Informationsstrom sie in eine egoistische Ecke drängt – dann haben wir ein Problem.
Glauben Sie, mit Büchern wie Ihren auch etwas bewirken zu können?
Ich hoffe es! Eines meiner Lieblingszitate stammt von Robert Swan, einem Polarforscher und Umweltaktivisten: „Die größte Bedrohung für den Planeten ist der Glaube, dass jemand anderes ihn retten wird“. Wir alle müssen versuchen, aus unserer Position heraus etwas zu tun. Wahre Zufriedenheit kommt nicht davon, nur seine eigenen individuellen Ziele zu verfolgen, sondern sich für andere zu öffnen, freundlich zu sein und etwas zu tun, das uns alle glücklich macht.
Maja Lunde ist mit Ihrem neuen Buch am 29. März zu Gast bei der lit.Cologne. Die Veranstaltung ist ausverkauft.
„Für Immer“, btb, 318 Seiten, 24 Euro.