Die olympische Closing Ceremony im Stade de France bot hohe Kunst, öde Reden und ein fantastisches Phoenix-Konzert.
Olympische SpieleTom Cruise und ein goldener E.T. – so durchgeknallt war die Schlussfeier von Paris
Ein goldgefiederter Außerirdischer schwebt ins Stade de France. Er hat – so will es Thomas Jolly, Regisseur der viel diskutierten Eröffnungs- und nun auch der Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele von Paris – eine der beiden vergoldeten Kupferschallplatten gefunden, die sich an Bord der interstellaren Raumsonden Voyager 1 und 2 befinden. „Records“ hat Jolly diesen künstlerischen Teil der Zeremonie in offensichtlicher Doppelbedeutung betitelt. In den Rillen dieser kosmischen Flaschenpost sind die Sounds der Menschen und ihrer Erde festgehalten, Beethoven und Chuck Berry, Walgesänge, Grillenzirpen und das Donnergrollen einer startenden Saturn-V-Rakete.
Dass der Golden Voyager auf seiner archäologischen Mission aber ausgerechnet im Olympiastadion landet, unter den Augen von 71.000 Zuschauern und Millionen mehr an ihren Endgeräten, begründet der Regisseur damit, dass die Tonträger dereinst in Frankreich hergestellt worden waren, genauer gesagt im Pariser Vorort Créteil.
Aus dem Mittelmeer ragt eine riesige Goldmedaille empor
Der Besucher findet sich auf einer überdimensionierten Weltkarte wieder, von Stegen verbundene Bühnen aus spitzwinkligen Dreiecken stellen die Kontinente dar. Als zuvor die Athleten und die Volunteers in lockerer, egalitärer Formation in den Innenraum eingezogen waren, winkten, lächelten, ihre Medaillen in die Kameras hielten, ragte hier aus dem Mittelmeer eine riesige Goldmedaille empor. Von der ist nun nur der Rahmen übriggeblieben, der extraterrestrische Forscher erklimmt ihn, findet eine griechische Fahne und pflanzt diese in den Bühnenboden.
Wie zur Antwort steigt jetzt eine riesige Nike von Samothrake auf, die berühmteste Skulptur des Louvre. Schattenrisse von Athleten laufen über die Zuschauerränge, verwandeln sich erst mittels LED-Technik in Friedenstauben, dann in die olympischen Ringe, dazu wird aus den Protokollen des ersten olympischen Kongresses gelesen, der 1894 an der Sorbonne stattfand.
Wir sehen: Hundert grauweiß maskierte Tänzer mit golden aufleuchtenden Medaillenherzen. Sind sie Mumien, zum Leben erweckte Statuen, Spielberg’sche E.T.s? Während diese Wesen noch mehr Ringe aufstellen, auf ihnen Turnübungen absolvieren wie auf sechs Meter hohen Rhönrädern, wird ein Flügel mitsamt dem Pianisten Alain Roche senkrecht in den Stadionhimmel gezogen. Er trägt einen meterlangen Umhang aus alten VHS-Bändern, entworfen, wie der goldene Astronautenanzug, vom jungen Star-Designer Kevin Germanier, der schon Heidi Klums Möchtegern-Top-Models einkleidete.
Roche spielt und ein Tenor singt die „Hymne an Apollo“, eine der wenigen erhaltenen Notationen antiker griechischer Musik. Sie wurde im Jahr des ersten olympischen Kongresses veröffentlicht und die Steintafel, in die sie gemeißelt wurde, befindet sich natürlich im Louvre. Bedeutungsschwanger ist gar kein Ausdruck, das hier wird eine Drillingsgeburt.
Bedeutungsschwanger ist gar kein Ausdruck, die olympische Abschlusszeremonie wird eine Drillingsgeburt
Aber plötzlich ist alles ganz einfach. Die Tänzer bilden eine Pyramide, heben den Golden Voyager in die Höhe. Die fünf Ringe werden an Seilen befestigt und vereinen sich in der Mitte des Stadions zum strahlenden Olympiasymbol. Um sie herum sprüht goldenes Feuerwerk vom Dach. Jetzt darf endlich gefeiert werden.
Die wunderbare französische Band Phoenix betritt nun die Bühne, stimmt ihren Hit „Liztomania“ an. Vier Freunde aus Versailles, die ihr letztes Album allen Ernstes im Louvre aufgenommen haben. Die Athleten, die eigentlich die Plattform verlassen sollten, strömen stattdessen der Band entgegen, ignorieren die Mahnungen des Stadionsprechers und feiern mit hochgereckten Händen, auf denen sie schließlich Phoenix-Sänger Thomas Mars hochheben. Gut so, das kurze Konzert ist ein Triumph, mit Gastauftritten des flauschigen Elektronik-Duos Air (man spielt „Playground Love“, das Stück, das stammt aus einem Film von Sofia Coppola, der Frau von Mars) und des kambodschanischen Rap-Stars VannDan.
Zusammen mit der belgischen Popsängerin Angèle und dem Pariser Produzenten Kavinsky spielt die Band dessen Stück „Nightcall“, den Höhepunkt des „Drive“-Soundtracks. Für ihre Single „Tonight“ schaut Vampire-Weekend-Sänger Ezra Koenig zum Duett vorbei und repräsentiert Los Angeles, den Austragungsort der nächsten Spiele.
Das unvermeidbar folgende IOC-Prozedere nimmt den Drive leider wieder heraus: Tony Estanguet und Thomas Bach loben die gelungenen Spiele, ein Kinderchor singt. Dann folgt die Übergabe der Fahne, von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo an Karen Bass, ihre Kollegin in L.A. Die hat die Sängerin H.E.R. mitgebracht, bekannt aus der diesjährigen Superbowl-Halbzeitshow.
Sie verleiht dem „Star-Spangled Banner“ mit schweren Gitarrenakkorden ungewohnten Schmiss, lässt die Nationalhymne nahtlos in das Thema von „Mission Impossible“ übergehen, das Signal für Tom Cruise, sich jetzt spektakulär vom Rand des Stadiondachs abzuseilen. Rastlos, nur eine überenthusiastische Athletin erhascht sich einen Wangenkuss, eilt die letzte große Hollywoodlegende zu einem Motorrad, fährt die olympische Fahne durch Paris, in ein bereitstehendes Transportflugzeug, springt über Los Angeles ab, klettert aufs Hollywood-Sign und befestigt die drei noch fehlenden Ringe über dem Doppel-O. Man hat nicht weniger erwartet.
Die Szenerie wandert an den Strand von Santa Monica, auf drei Bühnen wechseln sich die Red Hot Chilly Peppers, Billie Eilish und Olympia-Maskottchen Snoop Dogg ab, letzterer unterstützt von Dr. Dre und einer leicht bekleideten, twerkenden Fahrradfahrerin. Ein Vorgeschmack auf die Star-Power der Amerikaner. Aber die Finesse und liebenswerte Verspultheit der Franzosen vermisst man schon jetzt.
Derweil bringt im Stade de France ein schüchterner Léon Marchand – der junge Rekordschwimmer ist Frankreichs neuer Held – die olympische Flamme zum Erlöschen, erklärt Thomas Bach die Spiele für beendet, schmettert die Sängerin Yseult im Auftrag der Nation der Welt ein „I did it my way“ entgegen. Warum man da nicht selbstbewusst die französische Originalversion des Stücks, „Comme d’habitude“ gewählt hat, bleibt ein letztes Rätsel. Vielleicht, weil hier nichts so wie gewöhnlich war.