Sean Bakers schrille Romanze „Anora“ ist der große Oscar-Favorit. Gediegenheit war früher. Wer sonst noch Chancen hat.
Oscar-AusblickWarum Sexarbeit jetzt reif für den Hauptpreis ist
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Mickey Madison und Mark Eydelshteyn in „Anora“ von Sean Baker
Copyright: Universal Pictures
Prostituierte lernt Traumprinzen kennen. Sie heiraten. Seine Familie hat etwas dagegen. Oder: „Pretty Woman“ trifft „Crazy Rich“ trifft „Romeo und Julia“. Vielleicht hätte sich Sean Baker, Autor und Regisseur des aktuellen Oscar-Favoriten „Anora“, vor 20 Jahren noch einen „Elevator Pitch“ für seinen Film ausdenken müssen, eine Telegramm-Fassung für eilige Produzenten, um das nötige Geld zusammenzubekommen. Spätestens nach Lektüre des Drehbuchs hätte jedoch kein Studioboss auch nur einen müden Cent in den Cannes-Gewinner investiert.
Bei Sean Baker ist Julia eine Göre mit berufsbedingter Deformation und Romeo ein verzogener Trottel mit Mutterkomplex. Die erste halbe Stunde des Films besteht im Wesentlichen aus Sexarbeit und Geschrei. Darauf folgen kurze Flitterstunden in Las Vegas. Dann kippt die schrille Romanze ins Slapstickhafte, mit knuddeligen osteuropäischen Schlägertypen und noch mehr Geschrei. Am Ende trifft hier eher Luis Buñuel auf Designerdrogen und „Kevin - Allein zu Haus“.
Früher wäre „Anora“ alles gewesen, aber kein Oscar-Film
Man kann darüber streiten, ob „Anora“ ein würdiger Cannes-Gewinner ist, oder der leicht verunglückte Versuch eines Kritikerlieblings, endlich mal einen populären Film zu drehen. Dafür dürfte man sich rasch darüber einig werden, dass Bakers Sozialgroteske vor 20 oder auch nur zehn Jahren nicht einmal in die Nähe einer Oscar-Nominierung gekommen wäre. Für die jährliche Selbstfeier der US-Filmwirtschaft wäre „Anora“ zu wild, zu explizit und erfolglos gewesen, das Gegenteil jener handwerklich gediegenen Prestigeprojekte, die von den Mitgliedern der Academy of Motion Picture Arts and Sciences regelmäßig prämiert wurden.
Offenbar wirkt der eingeleitete Verjüngungsprozess der Academy. Bereits einige der „Besten Filme“ der letzten Jahre, insbesondere „Parasite“ und „Everything, Everywhere All at Once“, hätte man früher allenfalls Außenseiterchancen in Nebenkategorien eingeräumt. Ähnliches gilt für den dieses Jahr am häufigsten nominierten Film, das Musical „Emilia Pérez“ von Jacques Audiard. Die französische Produktion über einen mexikanischen Drogenbaron, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht, schrieb mit 13 Nominierungen Geschichte (die meisten eines nicht-englischsprachigen Films bisher), könnte aber nach dem Skandal um rassistische Tweets der Hauptdarstellerin Karla Sofia Gascón in der Nacht von Sonntag auf Montag (nach deutscher Zeit) gänzlich leer ausgehen – auch das wäre ein Novum.
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Adrien Brody in The Brutalist 2024.
Copyright: Imago/Landmark Media
„Anora“ hat sich spät in die Favoritenrolle geschoben, nachdem der Film überraschend bei Umfragen der Produzenten- und Regisseursvereinigung an erster Stelle gestanden hatte. In der Regel lassen sich aus den Entscheidungen der Berufsgilden die Aussichten der Kandidaten weitgehend verlässlich ableiten, Branchendienste wie „Variety“ oder „Hollywood Reporter“ stellen dafür eigens Statistikexperten ab. In die keinesfalls simple Berechnung fließt etwa ein, wie oft ein Film, der die genannten Auszeichnungen erhielt, in der langen Oscar-Geschichte zum „Besten Film“ gewählt wurde. Bei „Anora“ taxiert der „Hollywood Reporter“ die Wahrscheinlichkeit auf 52 Prozent.
Die anderen aussichtsreichen Kandidaten folgen abgeschlagen auf den Plätzen: „Konklave“ und „The Brutalist“. Von beiden bringt am ehesten Edward Bergers Drama über eine fiktive Papstwahl die alten Oscar-Meriten mit, doch dürfen die Produzenten wohl vor allem in den Kategorien „Bestes adaptiertes Drehbuch“ und „Bester Schnitt“ hoffen. Isabella Rossellini als Schwester Oberin unter lauter machthungrigen Kardinälen werden hingegen kaum Chancen eingeräumt; es sei denn, auch die allseits gefeierte Zoe Saldaña, für ihre Nebenrolle in „Emilia Pérez“ nominiert, gerät in den Abwärtsstrudel um Karla Sofia Gascón.
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Isabella Rossellini in Edward Bergers „Konklave“
Copyright: Focus Features
Oder kommt alles ganz anders? Machen die Heimsuchungen der letzten Wochen, die Brände in Los Angeles und Donald Trumps Wiederwahl, den Experten einen Strich durch die Wahrscheinlichkeitsrechnungen? Schließlich gilt die Oscar-Nacht auch als Manifestation eines kollektiven Geists von Hollywood, unbewusst beschworen durch derzeit rund 10.000 Stimmberechtigte. Sollte diesen eher der Sinn nach dem großen historischen Drama stehen, nach einem düsteren Epos, dessen traumatisierter Held eine Jahrhundertkatastrophe überlebt, dann könnte „The Brutalist“ deutlich mehr erreichen als ihm derzeit zugetraut wird.
Brady Corbets Drama eines fiktiven Architekten und Holocaust-Überlebenden gehört zu den Erfolgsgeschichten, die auch das alte Hollywood immer wieder preiswürdig fand: ein unbekannter Regisseur, der sich einer Herzensangelegenheit verschreibt, den kommerziellen Gesetzen trotzt (der zweiteilige Film läuft 215 Minuten) und obsiegt. Würde Corbet den Regie-Oscar erhalten, gäbe es auf der Bühne des Dolby Theatres das glückliche Ende, das seinem Helden lange versagt bleibt. Für derlei Wiedergutmachungen war die Academy immer gu haben.
Aus deutscher Sicht dürfte es ein ruhiger Oscar-Abend werden
In den Kategorien „Beste Musik“ und „Beste Kamera“ gilt der „Brutalist“ ohnehin als sicherer Tipp. Und sollte Corbets Hauptdarsteller Adrien Brody nicht seinen zweiten Oscar nach „Der Pianist“ erhalten, werden die Statistiker des „Hollywood Reporter“ vermutlich arbeitslos. Bei den besten Hauptdarstellerinnen läuft es auf Demi Moore hinaus, die mit dem Horrorfilm „The Substance“ ein unerwartetes Comeback feierte. Solch späte Auszeichnungen für Hollywood-Veteranen sorgen verlässlich für Tränen der Rührung – bei der Geehrten und den Ehrenden.
Aus deutscher Sicht dürfte es ein ruhiger Abend werden. In der Kategorie „Bester internationaler Film“ konkurriert Mohammad Rasulofs Drama „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ mit „Emilia Pérez“, dessen Produzenten sich hier einen Trostpreis abholen könnten, und dem hoch gehandelten brasilianischen Beitrag „I‘m Still Here“. Aber vielleicht bewegt Rasulofs kluger Film über das Leben in einem autoritären Regime die durch Trump aufgeschreckte Academy doch mehr als gedacht.
Der Düsseldorfer Komponist Volker Bertelmann, bekannt unter dem Künstlernamen Hauschka, und die Kostümbildnerin Lisy Christl sind jeweils für ihren „Konklave“-Beitrag nominiert, scheinen aber chancenlos; die Mehrheit der Ausstattungs-Oscars dürfte an das Musical „Wicked“ gehen. Moritz Binder ist als einer von drei Drehbuchautoren von „September 5“ im Rennen. Dieses sollten aber Baker, Corbet und Jesse Eisenberg (für „A Real Pain“) unter sich ausmachen. Als Trost bleibt das Gefühl, dabei gewesen zu sein, als „Anora“ sich einen Oscar erschrie.