Die Philosophin Susan Neiman kommt mit ihrem umstrittenen Buch „Links ist nicht woke“ nach Köln.
Philosophin Susan Neiman„Die Woken sind nicht links!“
Frau Neiman, Ihr Buch heißt „Links ist nicht woke“ und man erfährt darin viel darüber, wie Sie links sein definieren. Aber der Begriff „woke“ und wer sich dahinter versammelt, bleibt eher vage.
Tatsächlich war das Buch ein Versuch, links sein zu definieren. Und nicht unbedingt woke. In meinem Bekanntenkreis gibt es eine große Unsicherheit darüber, was heutzutage tatsächlich links ist. Und die Annahme, dass links gleichbedeutend mit woke ist, wollte ich infrage stellen.
Ihre Theorie ist, dass die woke Geisteshaltung innerhalb der Linken immer mehr Raum einnimmt. Und sich die traditionelle Linke da nicht mehr wieder findet.
Ja, sie haben das Gefühl, sie haben keine politische Heimat mehr. Ich habe das Buch geschrieben, weil mir viele Freunde gesagt haben: „Ich glaube, ich bin nicht mehr links.“ Und ich sage aber: „Du bist immer noch links! Die Woken sind nicht links.“ Ich wollte auch für mich verstehen, was die Unterschiede sind. Und leider gibt es auch Linke, die sagen: „Ich kann dieses woke Gerede nicht ausstehen“ - und dann tatsächlich nach rechts abdriften.
Auch wenn es Ihnen vor allem darum geht, das linke Selbstverständnis zu definieren: Was macht denn diese woke Geisteshaltung aus, über die Sie schreiben?
Woke ist zu einem Schimpfwort geworden. Ich kenne eigentlich niemanden, der sich dazu bekennen möchte. Auch deswegen ist der Begriff nicht einfach zu definieren. Grundsätzlich werden die Woken angetrieben von traditionellen linken Emotionen: Man möchte an der Seite der Unterdrückten und Marginalisierten stehen. Man möchte die Verbrechen der Geschichte wiedergutmachen oder wenigstens bedenken. Und das teile ich genauso wie eigentlich jede linksliberale Person auf der Welt.
Und wo sehen Sie das Problem der woken Gesinnung?
Das Problem liegt in dem Gedankengut, den philosophischen Annahmen, aus denen sich die Woken speisen. Sie sind tatsächlich sehr reaktionär - ohne es unbedingt selbst zu erkennen. Wo würden Sie eine politische Bewegung verorten, die glaubt, dass nur Menschen sich wirklich verstehen und verbinden können, wenn sie aus dem gleichen Stamm kommen? Oder die alle Gerechtigkeitsansprüche für eine Verschleierung von reinen Machtansprüchen hält? Oder die alle vergangenen Versuche, Fortschritte zu erzielen, für gescheitert erklärt? Wenn ich nur diese drei Annahmen nennen würde, wo würden Sie diese politische Bewegung verorten? Sicher nicht links.
Sie schreiben, dass „Stammesdenken“ die woke Bewegung ausmacht. Also eine Fixierung auf die Herkunft. Woran machen Sie das denn fest?
An der ganzen Debatte über kulturelle Aneignung zum Beispiel. Die Idee, dass man nur Bücher über den eigenen Stamm schreiben oder gar übersetzen kann. Erinnern Sie sich noch an den Skandal in Europa über die Übersetzung der jungen schwarzen amerikanischen Dichterin Amanda Gorman? Die durfte nur von einer schwarzen Dichterin übersetzt werden. In Deutschland gab es dann gleich eine dreiköpfige Übersetzungskommission. In den USA gibt es auch gerade eine Debatte über einen Film über den großen Dirigenten Leonard Bernstein. Da gibt es die Auffassung, dass Bernstein nur von einem Juden gespielt werden kann. So etwas ist für mich absolut Stammesdenken.
Was ist denn daran so gefährlich?
Entschuldigung, aber ich erinnere daran, dass die Nazis es problematisch fanden, dass Juden deutsche Musik gespielt haben! Kunst ist eines der besten, wenn nicht überhaupt das beste Mittel, Verbindungen zu anderen Menschen aus anderen Hintergründen zu schaffen. Und das als Eigentum eines bestimmten Stammes zu sehen, unterminiert erstens Kunst an sich - aber auch dieses Verbindende. Und auch die emanzipatorische Funktion von Kunst.
Lehnen Sie das ganze Konzept der kulturellen Aneignung ab? Wenn sich zum Beispiel ein US-Amerikaner als „Indianer“ verkleidet. Empfinden Sie das nicht als unsensibel?
Es geht immer um Sensibilität und um Nuancen. Natürlich darf man ein Volk nicht auf ein bestimmtes Klischee reduzieren. Aber echtes Interesse an einer anderen Kultur ist etwas anderes als dieser Kampfbegriff „kulturelle Aneignung“. Ich habe zum Beispiel einen wunderschönen Morgenmantel geschenkt bekommen von einem Freund aus dem Senegal. Er war mit Recht stolz auf das Kunsthandwerk seines Landes. Sicherlich will er, dass ich den Mantel tragen.Und ich war froh über das Geschenk. Was soll daran falsch sein?!
Sie stellen in Ihrem Buch den Universalismus dem Begriff des Stammesdenkens gegenüber. Also die Idee, dass wir viel mehr sind als unsere Herkunft. Und auch davon geprägt sind, ob wir arm sind ober reich, zum Beispiel...
Ob man Kinder hat. Was für einen Beruf man hat. Was für politische Einstellungen man hat... Wir haben viele Identitäten. Es gibt Menschen, die können sich ihr Leben nicht ohne ihren Fußballverein vorstellen oder nicht ohne die Musik. Und das Problem mit dem Stammesdenken ist, dass es alle unsere sehr vielseitigen Identitäten ausgerechnet auf das reduziert, was wir am wenigsten selbst bestimmen können: Unsere Herkunft.
Aber sprechen Sie damit nicht gerade Menschen, die wegen ihrer Herkunft diskriminiert werden, ihr Recht ab, dass ihre Erfahrungen gesehen werden?
Natürlich kann ich auch sagen, mein Jüdischsein hat mich in vielerlei Hinsicht geprägt, und manchmal will ich als jüdisch gesehen werden. Aber ich bin eine jüdische Universalistin, die nicht auf das Jüdischsein reduziert werden will. Das heißt, wir sollen unsere Rolle in aller Vielfalt genießen. Natürlich kommen wir aus verschiedenen Kulturen, es wäre schrecklich, wenn das nicht der Fall wäre. Aber wenn es um Politik geht, sollten wir lieber darauf schauen, was uns als Menschen vereint und nicht, was uns trennt.
Sie kritisieren, heute werde das Opfer anstelle des Helden zum Subjekt der Geschichte erhoben. Was ist problematisch daran, den Blick auch auf die andere Seite der Geschichte zu richten?
Am Anfang war das überhaupt nicht falsch - es war ein Versuch, Gerechtigkeit herzustellen. Weil Geschichte tausende von Jahren aus der Perspektive der Gewinner geschrieben wurde. Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich die Perspektive langsam geändert - wegen des Holocausts und wegen der antikolonialen Bewegungen. Aber was als Form von Gerechtigkeit anfing, ist inzwischen in etwas Absurdes umgeschlagen: Dass nur noch die Opfer der Geschichte geehrt werden. Das heißt, man wird nicht mehr geehrt dafür, was man in der Welt getan hat, sondern nur noch für das, was die Welt uns angetan hat. Und da verliert man tatsächlich den Begriff der Ehre. Und man verliert auch einen Begriff von Selbstbestimmtheit.
Die Spaltung, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, zwischen der traditionellen und der woke Linken – sehen Sie die auch in der deutschen Linken?
Absolut. Zum Beispiel, dass Menschen ausgeschlossen werden, weil sie nicht die sogenannte gendergerechte Sprache benutzen. Ich bin nicht unbedingt der größte Fan von Sahra Wagenknechts Politik, vor allem nicht von ihrer Außenpolitik. Aber dass es wichtigere Themen gibt als angeblich gendergerechte Sprache - da stimme ich zu. Wenn eine Frau von ihrer Ostrente nicht die Miete zahlen kann, was nutzt ihr ein Gendersternchen?
Sie schreiben, dass es jetzt gerade eigentlich wichtig wäre, vereint als Linke gegen die erstarkten Rechten zu stehen.
Ja, und ich weiß aber nicht, wie tief die Gräben sind. Das Buch ist ja ein Versuch, etwas zur Vereinigung beizutragen.
Also wenn ich mich mit "woke" gemeint fühlen würde, wäre ich ehrlich gesagt beleidigt.
Ich habe eher gehofft, dass die Woken erkennen würden: „Meine Absichten, meine Emotionen und meine Wünsche sind links – aber ich baue auf die falsche Theorie. Und das ist ein Problem. Vielleicht sollte ich das überdenken.“ Das ist noch immer meine Hoffnung.
Sehen Sie denn trotz allem einen Weg zur Vereinigung der verschiedenen Lager der Linken? Oder glauben Sie, dass es auf eine Spaltung hinauslaufen wird?
Die Rechten vereinen sich blendend. Die AfD benutzt den Lieblingssohn von Netanjahu als Posterboy. Die Modis und die Orbans und die Netanjahus – die treffen sich alle. Und die Linke spaltet sich traditionell. Und das ist fatal! 1933 waren zum Beispiel die Mitglieder der verschiedenen Linksparteien viel zahlreicher als die Nazis – aber untereinander zerstritten. Und mit dieser Warnung hoffe ich, dass ein paar Leute sich ihre Strategien überlegen. Es gibt ja nicht nur die Gefahr von Protofaschisten in vielen Ländern, sondern auch die Klimakrise. Und die können wir nur bewältigen, wenn wir universell und international denken.
Ist die Spaltung der Linken denn ein globales Problem?
Absolut. Ich dachte, es sei zunächst ein amerikanisches und dann ein europäisches Problem. Aber das Buch wird unter anderem in Korea und Brasilien erscheinen. Also offensichtlich gibt es das Problem in diesen Ländern auch.
Susan Neiman in Köln
Susan Neiman, 1955 in Atlanta, Georgia, geboren, war Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv, bevor sie im Jahr 2000 die Leitung des Einstein Forums in Potsdam übernahm.
Am Mittwoch, 30. August, 19 Uhr, spricht Neiman mit Moderator Gert Scobel in der Zentralbibliothek am Neumarkt über ihr Buch „Links ist nicht woke“. Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit der Buchhandlung Klaus Bittner.
Der Einlass am Josef-Haubrich-Hof 1 (Nähe Neumarkt), Köln-Innenstadt, ist ab 18.30 Uhr. Das Ticket kostet 8 Euro, ermäßigt 6 Euro, mit Schwerbehindertenausweis 4 Euro. Karten sind im Vorverkauf über Kölnticket oder an der Abendkasse erhältlich.