Der Polizeiruf 110 mit dem Titel „Little Boxes“ versucht, die Spaltung der Gesellschaft humorvoll zu überbrücken. Dabei hat er vergessen, lustig zu sein.
So war der Polizeiruf aus MünchenDieser Krimi tanzt zwischen Wokeness und rechter Propaganda
Man kann nicht lachen und gleichzeitig beleidigt sein, so lautet eine alte Grundregel der Comedy. Wenn man also schon ein Wespennest vor sich hat, und das hat der neueste Polizeiruf aus München ohne Frage, dann kann man ihn vorsichtig mit dem Finger antippen. Oder man macht es wie der Krimi „Little Boxes“, der am 17.09. ausgestrahlt wurde. In den Worten des Ermittlers Dennis Eden: „Subtil bringt nicht viel“. Fans eines subtilen Humors sind hier wohl falsch.
Das Wespennest ist in diesem Fall schnell gefunden: Vor dem Institut für Postcolonial Studies in München liegt die nackte Leiche des wissenschaftlichen Mitarbeiters Dr. Dawoud Alrashid (Lucas Janson). Auf seinem Rücken steht das Wort „Rapist“, englisch für Vergewaltiger. Verbrennungen an seiner Brust zeigen, dass er mit einem Elektroschocker angegriffen oder gefoltert wurde.
Der Einstand von Johanna Wokalek als Cris Blohm
Mit dem Fall wird Cris Blohm (Johanna Wokalek) betraut, die nach einem Auslandseinsatz nach München zurückgekehrt ist und bereits eine jahrelange Bekanntschaft mit Dennis Eden (Stephan Zinner) hat. Doch Blohm bekommt einen anderen Partner zugeteilt: Otto Ikwuakwu (Bless Amada). Eden ist nicht begeistert darüber, den beiden nur zuarbeiten zu dürfen. Die quirlige Blohm wird zunächst auch von Ikwakwu mit Schweigen und Kälte bestraft.
Schlimmer noch wird es beim Abklappern des Figurenpersonals an der Uni. Dort haben sie es gleich mit einer ganzen Reihe von Karikaturen linker Positionen zu tun. Da ist „Profx“ Kim Hallstein (Lise Risom Olsen), eine nichtbinäre Lehrkraft, die die Polizei am liebsten abschaffen würde und davon ausgeht, es könne unter dem Patriarchat überhaupt keinen einvernehmlichen Sex zwischen Mann und Frau geben. Jeder Vorwurf der Vergewaltigung sei damit irgendwie wahr. Verteidiger von Luke Mockridge und Till Lindemann dürften sich bestätigt fühlen.
Dann ist da noch die Frauenbeauftragte Dr. Salka Holm (Katrin Lux), die womöglich mit dem mutmaßlichen Vergewaltigungsopfer sprach, aber keine Information hergeben möchte, wenn sie nicht von selbst zur Polizei gehen will - und zudem auch davon ausgeht, dass man jeden heterosexuellen Mann an seinem Raubtierblick erkennen könne. Was besonders ironisch ist, weil sie daraufhin mit Ikwuakwu einen homosexuellen Mann ins Visier nimmt.
Die Polizei hält an der Unschuldsvermutung fest
Und da ist eine ganze Bande Studierender, angeführt von der Doktorandin Defne Şahinkaya (Canan Samadi), die die Polizisten unter dem Motto „all cops are bastards“ beschimpfen: Blohm ist nur eine Kartoffel, Ikwaku der „Hofkanake“, es ertönen Schlachtrufe wie „Check your privilege!“ oder, noch kreativer: „Kackscheiße“. Die einzige Studentin, die Blohm nicht sofort beschimpft, ist Fnan Berhe (Victoire Laly). Sie arbeitet zwar in der Bibliothek, will zur Tatnacht aber nichts gehört oder gesehen haben, sie hatte ihre Kopfhörer im Ohr.
Mehrfach spielen in der Folge recht unvermittelt Popsongs, zum Beispiel Smooth Criminal von Michael Jackson, und die Ermittler schwingen das Tanzbein wie in einem Musical. Ikwakwu und Eden haben ein schönes Duett zu „Ivory and Ebony“, in dem Stevie Wonder und Paul McCartney schwulstig die Einheit von Schwarz und Weiß besingen. Ein bisschen Eskapismus vor der harten Realität.
Zurück zum Fall: Ikwakwu stellt infrage, dass es wirklich eine Vergewaltigung gegeben hat, und nimmt die Mitarbeiterinnen ins Visier. Dadurch, dass die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen nur Einjahresverträge bekommen, konkurrieren sie stark miteinander. Das Gespräch mit einem von Alrashids Freunden, Max Frühauf (Moritz Treuenfels), zeichnet eine geradezu despotische Herrschaft Hallsteins im Institut, unter der jede Gegenmeinung schnell zum Jobverlust führt.
Der Polizeiruf 110 „Little Boxes“ thematisiert Rassismus und Sexismus
Es stellt sich heraus, dass Alrashid mit einer Buchveröffentlichung die Verbohrtheit der Positionen des Lehrstuhls bloßstellen wollte, was Hallstein zu verhindern suchte. Auch Alrashids Vertragsverlängerung war damit dahin. Doch er wollte sich mit einem gewagten Vorhaben an den Unibetrieb festklammern: Indem er sich als Transfrau outete, um als Frauenbeauftragte zu kandidieren. Die derzeitige Frauenbeauftragte Holm wusste das, konfrontierte Alrashid in der Tatnacht damit, weigert sich aber gegenüber Blohm irgendetwas zuzugeben.
Hallstein scheidet schließlich wegen eines wasserfesten Alibis als mögliche Tatperson aus. Die Ermittler können aber beweisen, dass Holm, Şahinkaya und die Studentin Fnan Berhe zur Tatzeit mit dem WLAN der Uni verbunden waren.
Şahinkaya, die sich dank ihrer reichen Familie einen Spitzenanwalt leisten kann, entzieht sich völlig des Zugriffs und behält ihren respektlosen Kurs gegenüber den Ermittlern bei. Da alle Figuren mauern, will sich Ikwuakwu auf das schwächste Glied stürzen: Berhe, die wegen des Bürgerkriegs in Eritreia nach Deutschland kam und die nur eine Fiktionsbescheinigung hat, die sich nicht automatisch verlängert.
Der Fall nimmt eine ernste Wendung
Blohm ist äußerst unglücklich über diesen Versuch, Berhe zum Reden zu bringen. Ikwuakwu setzt sie aggressiv und mit der Drohung einer Abschiebung nach Eritreia enorm unter Druck, doch Berhe verrät nichts. Als sie ihre Jacke auszieht, sieht man an ihrem Rücken und den Schultern unzählige Narben aus ihrer Zeit dort. Für sie ist klar: Sie wird auf keinen Fall zurückgehen.
Blohm hat danach so ein schlechtes Gewissen, dass sie die Studentin in ihrer Wohnung aufsucht. Dort greift Berhe die Polizistin mit einem Elektroschocker an und knebelt sie. Erst jetzt gesteht die Studentin, dass sie einmal freiwillig mit Alrashid Sex hatte - sie wollte wissen, wie es sich anfühlt, nicht dazu gezwungen zu werden. Sie machte ihm aber klar, dass es nur eine einmalige Sache war.
Als Alrashid sie bei der Arbeit aufsuchte und sexuell übergriffig wurde, griff sie ihn mit dem Elektroschocker an. Ein bisher unentdeckter Herzfehler wurde ihm zum Verhängnis, er schaffte es also nur noch bis zur Wiese vor dem Institut und kollabierte dort, wo Berhe und Şahinkaya ihn als Vergewaltiger brandmarkten. Nach dem Geständnis schneidet sich Berhe eine Pulsader am Handgelenk auf. Ikwuakwu kommt und befreit Blohm, Sanitäter bringen Berhe ins Krankenhaus. Es ist unklar, ob sie überlebt.
Fazit zum Polizeiruf 110 „Little Boxes“
In einem Statement von Stefan Weigl auf der Website der ARD erklärt der Drehbuchautor von „Little Boxes“, was man von seinen Redakteuren in der Regel nicht hören will: „Ich versteh das ja, aber ob unsere Zuschauer schon so weit sind?“ und „Wir müssen aufpassen, dass wir keinen Beifall aus der falschen Ecke bekommen!“ Beide Sätze seien ihm gegenüber nicht gefallen, man habe dem Publikum vertraut, alles einordnen zu können. Die Folge begreift sich als kluger Vorstoß, um mit Humor gesellschaftlich disparate Positionen zu überbrücken.
Aber gelingt das? Der ernste Spin am Ende macht Themen um Flucht, sexueller Gewalt und Retraumatisierung eindrücklich und zeigt, dass hier keine Opfer von sexueller Gewalt verhöhnt werden sollen. Vielmehr wird ein zentrales Problem deutlich, nämlich wieso Betroffene es oft schwer haben, selbst wenn sie zur Polizei gehen. So macht die Folge am Ende viele Positionen wahr, die zuvor von arrogant und selbstgerecht auftretenden Figuren vertreten wurden. Soll hier dargestellt werden, wie die „Woken“ von Konservativen wahrgenommen werden? Oder war das ein ernsthafter Versuch, die Realität zuzuspitzen und zu zeigen, warum ihre Meinungen oft ungehört bleiben? Es wirkt wie eine Lehrstunde in Kommunikation, bloß dass alle Figuren so handeln, wie man es ihnen vom gegenüberliegenden Lager vorwirft.
Der Krimi dürfte die Zuschauerschaft spalten
Ein bisschen Abhilfe verschafft Cris Blohm, die sich durch die Welle der Feindseligkeit manövriert. Aber auch an dem Dilemma verzweifelt, dass Vergewaltigungen schwer nachzuweisen sind und Opfer meistens nicht zu ihrem Recht kommen. So verhindert sie, dass die erste Stunde der Folge zum rechten Propagandafilm wird.
Wenn man das lustig findet, funktioniert diese Satire vielleicht auch. Das sei schließlich, so Johanna Wokalek im Interview mit dem RND, das Ziel des Ganzen: Mit Lachen Luft durch eine verhärtete Front blasen, Begegnungen schaffen. Wer einen subtileren Humor bevorzugt, der nicht jedes Klischee aufgreift, quält sich durch. Es ist schon ironisch, dass „Little Boxes“ in dem Bemühen, die Lager miteinander zu versöhnen, vor allem ihr eigenes Publikum spalten dürfte. Und wer Applaus aus der falschen Ecke nicht fürchtet, muss sich am Ende nicht wundern, wenn man ihn auch bekommt.