„Aus dem Schatten: Thiaroye“ beginnt als Schultheater, aber am Ende ist man ergriffen. Unsere Kritik.
Premiere am Schauspiel KölnDas Massaker, das Frankreich verschweigen wollte
„Gedemütigte Eltern“, sagt Amar zu Nina, bevor er sie und den gemeinsamen Sohn verlässt, „bekommen wütende Kinder.“ Die Geschichte, eine Geschichte der Demütigungen, hat sich gegen ihre Liebe verschworen. Das Jahr ist 1970, Nina ist das Kind einer Rumänin und eines deutschen Soldaten. Aus dem Ostblock ist die Olympionikin nach Frankreich geflohen, nach Deutschland, ins Land des unbekannten Vaters, will sie nicht ziehen. Amar ist im Senegal geboren, von einer französischen Familie adoptiert worden. Aber das Land, das ihn aufgenommen hat, ist verantwortlich für den Tod seines Vaters. Hier kann er nicht bleiben.
Der Vater liegt in einem Massengrab in Thiaroye, einem Stützpunkt der Kolonialarmee außerhalb von Dakar. Er hat, zusammen mit anderen sogenannten Senegalschützen, im Zweiten Weltkrieg für die Besatzermacht gegen die Deutschen gekämpft. Doch nach der Befreiung Frankreichs wurden die Schützen ohne Entlohnung zurück in ihre Heimat verschifft. Und als sie dort erneut ihren Sold einforderten, eröffneten Soldaten das Feuer auf die Männer, die ihre Waffenkameraden gewesen waren. Das war am 1. Dezember 1944, Forschende gehen heute von bis zu 400 Opfern aus. Frankreich verschwieg das Thiaroye-Massaker Jahrzehnte lang, später stahl es sich mit der Lüge einer Meuterei aus der Verantwortung.
Theater als Ort der Aufklärung, Kunst als Traumatherapie
Alexandra Badea wurde wie ihre Heldin Nina in Rumänien geboren, seit 2003 lebt die Dramatikerin in Frankreich. Ihr Stück „Thiaroye“ bildet den Auftakt der Trilogie „Aus dem Schatten“: Zieht man die Verletzungen der Vergangenheit ins helle Licht, so lautet wohl die Hoffnung, fliehen die Schatten der Demütigungen, die die Eltern erfahren mussten, verfliegt vielleicht auch die Wut der Kinder, die man um ihre eigene Geschichte gebracht hat.
Theater als Ort der Aufklärung, Kunst als Traumatherapie, das lädt zum zynischen Abwinken ein – und die erste halbe Stunde von Poutiaire Lionel Somés Inszenierung der deutschsprachigen Erstaufführung im Depot 2 scheint Schultheater-Befürchtungen zu bestätigen. In der Mitte der Bühne von Marion Schindler liegt das Liebespaar Nina (Katharina Schmalenberg) und Amar (Serge Fouha) im Bett und erzählt sich wechselseitig seine Unglücksgeschichten, links und rechts davon befinden wir uns in den Nuller Jahren. Videoprojektionen liefern historischen Kontext. Es wird engagiert monologisiert.
Glenn Goltz ist Régis, ein desillusionierter Lehrer an einer Brennpunktschule im Banlieue. Er pflegt seinen sterbenden Großvater, der hinterlässt ihm zum Dank ein schweres Erbe: Aufzeichnungen über seine Beteiligung am Thiaroye-Massaker. Zainab Alsawah spielt Nora, eine Journalistin auf Wahrheitssuche, sie hat alte, unvollständige Tonbandaufzeichnungen von Amar gefunden und sucht nun nach ihrem Protagonisten. Nur dem jungen Börsenmakler und Feierbiest Biram (Leonard Burkhardt) scheint die Vergangenheit schnuppe – was vor allem daran liegt, dass seine Mutter Nina sie vor ihm verborgen hat, weil sie in der Geschichtslosigkeit seine einzige Chance gesehen hat.
Man ahnt, wie diese Puzzleteile am Ende zusammenpassen werden – und fürchtet, dass der Weg zur Lösung dahin durch die Mühen der Pädagogik führt. Tut er auch. Doch die Absicht verstimmt nicht und das liegt an der großen Ernsthaftigkeit, mit der Poutiaire Lionel Somé und sein Ensemble Badeas Stück umsetzen: Nie zweifelt der Zuschauer an Serge Fouhas Schmerz, an Zainab Alsawahs investigativem Furor, an Glenn Goltz' selbstverletzendem Hadern mit dem Wissen, nach dem er nie gefragt hatte.
Katharina Schmalenberg stellt ihre Virtuosität ganz in den Dienst der Sache
Und Leonard Burkhardt, der als Klischeebanker und „Bilderbuchkandidat für eine gelungene Integration“ die scheinbar undankbarste Rolle zugewiesen bekommen hat, beginnt ausgerechnet, als seine Mutter die Sprache verloren hat, endlich die richtigen Fragen zu stellen und seine Figur gewinnt mit jeder Frage an psychologischer Tiefe: Warum, wundert sich Biram, als er begreift, dass er den Namen seines ermordeten Großvaters trägt, haben ihn sogar seine Eltern immer wie einen Fremden angesehen?
Es mutete fast falsch an, bei einem Abend, dem es so sehr um seine Sache geht, eine einzelne Akteurin herauszuheben: Aber Katharina Schmalenberg ist ja gerade so beeindruckend, weil sie die Virtuosität, mit der sie drei Jahrzehnte überbrückt, mit der sie einer wortlosen Schlaganfallpatientin grimmigen Humor und deren inneren Monolog bodenlose Verzweiflung verleiht, ganz in den Dienst der Sache stellt.
Nach etlichen verlorenen Jahren finden sich die Figuren im Senegal zum verspäteten Begräbnis wieder. Die Jahrzehnte der Sprachlosigkeit stehen auch für Frankreichs langes Schweigen. Erst vor anderthalb Monaten, in einer Rede zum 80. Jahrestag des Verbrechens, verwendete Präsident Emmanuel Macron zum ersten Mal den Begriff „Massaker“, die öffentliche und juristische Aufarbeitung hat bis heute nicht begonnen.
Über dem Massengrab ist ein Baobab-Baum gewachsen. „Wir haben ein halbes Jahrhundert zurückgelegt, um schließlich an den Ort zurückzukehren, an dem alles begann“, sinniert der Lehrer Régis. Poutiaire Lionel Somé, selbst Enkel eines Senegalschützen, inszeniert das Zusammentreffen der Generationen, der Kinder und Enkel von Opfern und Tätern, als heilende Zeremonie. Aber kann man hier noch von Inszenierung sprechen? Es ist ein Ritual, das tief in den Zuschauerraum hineinwirkt.