Uraufführung im Mülheimer Depot 1: Ersan Mondtag inszeniert Thomas Jonigks Bearbeitung des Phaedra-Mythos als Generalabrechnung mit dem Theater.
Premiere im Schauspiel KölnFluchende Dragqueen in kunterbunter Barbie-Welt
Seit einigen Jahren wird im deutschsprachigen Theater gerne „überschrieben“. Dabei handelt es sich eher um ein Modewort als um eine Mode, kann die Überschreibung eines klassischen Stückes doch fast alles meinen: Von der sanften Anpassung der Dialoge ins heutige Idiom bis zum völlig neuem Drama, dem der Ausgangstext lediglich als Sprungbrett diente.
Thomas Jonigk hat für seine Überschreibung des Phaedra-Stoffes, die am Freitagabend ihre Uraufführung im Depot 1 des Schauspiels Köln erlebte, eine weitere Form gefunden: Er setzt die Dramen von Seneca und Racine in Anführungszeichen, beziehungsweise deren Übersetzungen ins Deutsche durch Wenzel Alois Swoboda und Friedrich Schiller, und schenkt der Titelheldin und auch den anderen Figuren das Wissen um den eigenen Mythos.
Seine Phaedra weiß bereits im Voraus, dass sie sich in ihren Stiefsohn Hippolytos verlieben wird, dass ihre Amme Oenone diesen – um ihre Herrin zu schützen – vor seinem Vater Theseus der Vergewaltigung bezichtigen wird, dass Theseus den Sohn deshalb in den Tod schicken, dass Phaedra schließlich dem Gatten ihre Verfehlungen gestehen und Selbstmord begehen wird. Dass sie fürderhin als Sinnbild für die Falschheit der Frau missbraucht werden wird.
Phaedra einzementiert zwischen Entertainment und Hochkultur
Diese Phaedra leidet also vor allem an der Falschheit und Misogynie einer 2500 Jahre alten Theatertradition, „einzementiert im Niemandsland zwischen Hochkultur und kalkulierter Unterhaltung“: Mithin hat Jonigk ein Stück über Zweck und Zwecklosigkeit von Überschreibungen geschrieben. Es ist der Versuch, mithilfe des Kanons aus toxischen Traditionen auszubrechen.
Das kann so nicht funktionieren, die Tragödie setzt sich fort. Regisseur Ersan Mondtag – wie immer sein eigener Bühnenbildner – übersetzt dieses klaustrophobische Gefühl ins amerikanische Suburbia, in einen auf Lebensgröße aufgeblasenen Barbie-Set derselben. Drei Häuser in Knallfarben zitieren US-Baustile, von der Südstaatenvilla bis zur Corn-Belt-Scheune, die Wagen sind Kinder-Cadillacs, in denen sich das Ensemble zu Fuß voranschieben muss: Jeder Abgang ist mühsam.
Die Mondtag’sche Spielzeugwelt wirkt selbst wie ein unheimlicher Wiederholungszwang. Sie dürfte den meisten Zuschauern vertrauter sein, als die des römischen Theaters oder der französischen Klassik, man kennt sie aus „Die Frauen von Stepford“ (Mondtags Vorstadtbewohner könnten mit ihren Masken ebenso gut humanoide Roboter sein), aus David Lynchs „Blue Velvet“ oder Tim Burtons „Edward mit den Scherenhänden“.
Benny Claessens zieht sich absurde Mengen Kokain durch die Nase
Kaum jedoch, dass Benny Claessens seinen ersten Monolog als Phaedra gesprochen hat – er sitzt zusammen mit Lola Klamroths Oenone im pinken Bungalow und zieht sich absurde Mengen Kokain durch die Nase, die Live-Kamera überträgt das Geschehen auf eine Schäfchenwolken-Leinwand – verdrängt eine Referenz alle anderen: Der improvisationswütige belgische Bühnenstar scheint direkt aus einem John-Waters-Film auf die Bühne gebeamt worden zu sein, die tragische Geschichte kehrt als queere Camp-Travestie wieder.
Die zugedröhnten Hausfrauen vertreiben sich die Zeit mit albernen Telefon- und Klingelstreichen. Ihr Lieblingsopfer ist Margot Gödrös, die als „Chronik“ die Handlung mit noch schärferer Lästerzunge kommentiert. Wenn Claessens ausfällig wird, und das wird er oft, scheint der Geist von Waters Lieblings-Dragqueen Divine in ihn zu fahren. Sprechen er und Klamroth dagegen im alexandrinischen Versmaß, überwältigen die Rollen, die der Mythos ihnen zugedacht hat, sie wie im Schlaf. Als die beiden tatsächlich einmal in Liegestühlen wegratzen, sehen wir Oenones Traum als Schwarz-Weiß-Film: In römische Togen gehüllt, deklamieren die Frauen in gemessenem Tempo. Schließlich schreckt Klamroth auf: „Ich habe geträumt, wir wären in einer Peter-Stein-Inszenierung.“
Rein äußerlich mag Mondtags Theater die Antithese zu Steins feierlichem Ernst zu bilden, doch so unähnlich sind sich die Theatermacher gar nicht. Auch Mondtag bildet künstliche Gegenräume zum Alltag, in denen man sich umschauen und gelegentlich langweilen kann. Yvon Jansen, die als Hippolytos im Bodysuit mit blonder Brustbehaarung, um ihre Männlichkeit wie um ihre Keuschheit besorgt ist; Kristin Steffens als Jansens überdreht-unterdrückte Geliebte Arcicia; Benjamin Höppner, der als grollender Patriarch Theseus aus dem Vietnamkrieg zurückkehrt; Kei Muramoto als dessen schnell verstoßener Vietcong-Lustknabe Peirithoos: Kalkulierte Unterhaltung in einem Niemandsland aus Hochkultur.
Was genau der Punkt von Jonigks Vorlage ist: Das Theater sollte doch ein Ort der Möglichkeiten sein. Stattdessen stellt es immer und immer wieder die Ausweglosigkeit ins Rampenlicht. „Alles müsste sich irgendwie ändern“, seufzt Claessens’ Phaedra. „Die Gesellschaft. Die Politik.“ Später eröffnet er Höppners Theseus, dass sie doch eigentlich das ideale Paar wären: „Wenn du nicht du und er nicht er und ich nicht ich und alles komplett total absolut hundertprozentig anders wäre.“
Heißt auch: wenn die Geschlechterrollen im abendländischen Drama nicht so fest verdrahtet wären. Insofern ist Mondtags queere Inszenierung die Utopie von Jonikgs am Theater verzweifelnder Überschreibung.