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Premiere in der TanzfakturDiese Gespenster sind erdverbunden

Lesezeit 3 Minuten
Szene aus Choreografie "Gespenster" von Ursina Tossi

Szene aus Choreografie 'Gespenster' von Ursina Tossi

Choreografin Ursina Tossi zeigte ihre neueste Arbeit in der Kölner Tanzfaktur. Unsere Kritik.

In der Tanzfaktur in Deutz feierten „Gespenster“ von Ursina Tossi Premiere. Sie zeigt diese unwirklichen Wesen nicht als herumwehende Laken, sondern erdverbundener und noch schwerer zähmbar.

Vor einem Jahr krochen und stoben Tänzerinnen in der höhlenartig ausgestatteten Tanzfaktur durch „Hell“ von Ursina Tossi. Manchmal rotteten sie sich zur Parade zusammen, überragt und angeführt von einem fragilen Monster auf Stelzen. Das taucht jetzt wieder auf, aber tut geläutert: trägt Weiß. Der feine Stoff erinnert an die Willis, Sylphiden und sonstige Ballettgeister der Tanzgeschichte.

Ätherisch schwebende Frauen gibt es bei Ursina Tossi nicht

Ätherisch schwebende Frauen aber gibt es bei Tossi nicht. Auch gräbt ihre „Gespenster“-Inszenierung in anderen Historien, solchen, die von gebärenden Göttinnen und mehrköpfigen Menschen erzählen, und man sieht fratzenhaft aufgerissene Münder und Augen, heraushängende Zungen, auf- und aneinander gelegte Tänzerinnen, was an alte Skulpturen oder Reliefs in anderen Weltgegenden erinnert. Vielleicht sind es erfundene Erinnerungen.

Im Text des Stückes ist oft von Vergangenheit und Zukunft im selben Atemzug die Rede, „Gedächtnis und Prophezeiungen“. Gespenster, merkt man, sind Verwirrer und Verwirrerinnen und etwas wie Wiedergänger, Wiederholerinnen.

Soll man verrückten Wahrnehmungen mehr zutrauen?

Wie im Stück „Ghosts“, das sie 2023 am Stadttheater Gießen schuf, nutzt Ursina Tossi Spiegel auf der Bühne. Nicht rund jetzt, sondern schmale senkrechte Gläser, in Reihe montiert, die sich manchmal wenden wie Lamellenvorhänge. Sie reflektieren, fragmentieren und vervielfachen die gespiegelten Lichter und Gesichter. Diese Konstruktionen von Raphaela Andrade sind ihrerseits mobil auf Rollen, öffnen und verdrehen den Raum vor ihnen.

Die Choreografin Ursina Tossi, zwischen Hamburg und Köln pendelnd, ist seit Jahren die Spezialistin für das Unheimliche, Dunkle, für ungezähmte Gesellinnen. Doch sie lädt den „Gespenstern“ zu viel auf. Sie kommen kaum zum Tanzen. Worauf wollen sie hinaus, fragt man sich. Soll man verrückten Wahrnehmungen mehr zutrauen? Der Gleichzeitigkeit von Gut und Böse, von der zu Beginn die Rede ist? Hinaus und weg oder hinein? Alles offen lassen?

Eine zauberhafte Szene findet Gespenster, die als Doubles von Menschen leben, ganz nah bei ihnen. So umarmen die vier Tänzerinnen zart etwas vor ihnen stehendes Unsichtbares, das dadurch sichtbar wird in der Vorstellung. An anderer Stelle befühlen sie die Kolleginnen ähnlich, lüpfen oder stützen sie. Menschen als gute Geister.

Ursina Tossi integriert Audiodeskription in die Inszenierung. Sie ist eine der Vorreiterinnen dieses neuen Kombinations-Genres, das sehbehinderten Menschen einen besseren Zugang zu Bühnenaufführungen bietet, nicht mit drangeklebtem Übersetzen und Beschreiben, sondern als mitspielendes Teil des Stückes. Diesmal liest und spricht Sascha Malina Hoffmann vom Rand aus mit angenehmer Altstimme, flüstert auch mal oder ruft: Beschreibungen, kombiniert mit Interpretationen. Wenn es der Praxis der Tanzkritikerin zu sehr ähnelt, überlagern sich Sätze im Hirn. Wiederholungen, Wortgespenster.

Die nächste Premiere in der Tanzfaktur: das Tanztrio „Langes Wochenende“ von Elsa Artmann, am 22. und 23. November jeweils um 20 Uhr.