Flugscham ade! Statt selbst zu jedem Strand zu gurken, kann man auch diesen Job getrost KI-Influencerinnen überlassen.
Prominent-verteidigt-KolumneWas virtuelle Influencerinnen den echten Modellen voraushaben
Glam Harper hat den Sommer in Europa verbracht. „Ich muss schon sagen“, postet sie, vorm Wiener Schloss Belvedere posierend, „in Europa gibt es viele Paläste, die eine lange Geschichte hinter sich haben. Es macht Spaß.“ Kurz darauf trifft Harper fast der Hitzeschlag, was sie dazu veranlasst, ihren Insta-Followern zu raten, mehr Wasser zu trinken. Es folgen ähnlich sonnige Tage in Budapest, an der Côte d’Azur, mit ähnlich sonnigen Gedanken. Glam Harper schüttelt ihre blonde Mähne vor pittoresken Häfen und in Lavendelfeldern.
„Die Welt ist so ein wunderschöner und interessanter Ort“, schwärmt die Kalifornierin. Dabei kennt sie nur die Festplatte. Harper ist eine virtuelle Influencerin. Eine von vielen. Milla Sofia aus Helsinki zeigt sich genauso blond und knapp bekleidet wie Glam Harper. Allerdings hat sie den Sommer hauptsächlich auf den Sonnendecks diverser Yachten verbracht. Unter einer Strandansicht, der weiße Bikini sitzt knapp, macht sie sich warme Gedanken: „Lasst Euch von der beruhigenden Gelassenheit dieses Bildes an einen Ort des Friedens und der Harmonie entführen.“
Man kann Glam und Milla ob ihrer mitreisenden Einfalt nicht böse sein. Es gibt sie ja gar nicht. Sie sind künstliche, na ja, Intelligenzen. Sie sind nicht oberflächlich, sie sind die reine Oberfläche. Sie haben es nicht mit dem TikTok-Filter übertrieben, sie sind der Filter. Und letztlich repräsentierten sie nur den Sexismus ihrer Programmierer – oder den des Publikums.
Dafür können sie den gesamten Planeten als Bildschirmhintergrund für ihren Schmollmund missbrauchen, ohne dabei einen nennenswerten CO₂-Fußabdruck zu hinterlassen.
Solche Pixelpersonen fungieren bereits seit geraumer Zeit als garantiert skandalfreie Werbeträger und Fashion-Ikonen. Wie zum Beispiel die japanische KI-Influencerin Imma mit dem charakteristischen pinken Bob-Haarschnitt, die es bis aufs Cover von „Harper’s Bazaar“ geschafft hat (taiwanesische Ausgabe). Imma interagiert auf ihren Fotos auch immer wieder mit Fans aus Fleisch und Blut, das sieht ziemlich überzeugend aus. Zumal wenn es sich um Cosplayer handelt, die ihrerseits versuchen, wie eine Manga-Figur auszusehen. Man sich dann irgendwo in der Mitte.
Im Vergleich zu Selena Gomez oder Cristiano Ronaldo sind virtuelle Influencerinnen noch kleine Fische
Was man allerdings auch feststellen muss: Im Vergleich zu den Präsenzen realer Stars in den sozialen Medien, den 430 Millionen Insta-Followern von Selena Gomez oder den 600 Millionen von Cristiano Ronaldo, sind die virtuellen Influencer kleine Fische.
Schade eigentlich, wo sie so wenig Dreck machen und neuen Vorlieben des Publikums von Update zu Update problemlos angepasst werden können. Vor einigen Jahren besuchte ich ein Konzert des ebenfalls virtuellen japanischen Popstars Hatsune Miku. Deren Karriere hatte als Werbe-Maskottchen für ein Sprachsynthese-Programm begonnen, jetzt winkten ihr Zehntausende in Arenen mit Leuchtstäben zu. Dennoch: Nach einer halben Stunde fing ich an, mich ein wenig zu langweilen. Hatsune Mikus Bewegungsapparat schien doch eher eingeschränkt und was sollte schon passieren, dass nicht zuvor programmiert worden war?
Man braucht wohl mindestens die Illusion von Freiheit, um das Interesse zu halten. Die findet man bei Lil Miquela, einer echten Veteranin, seit 2016 im KI-Influencer-Geschäft. Heute hätte sie ein wenig geweint, während sie in einer Schlange wartete, meldet Miquela aus Barcelona. Jemand hätte sie erkannt, sich als Fan der ersten Stunde geoutet. Damals sei er noch Schüler gewesen, heute, mit 22, studiere er Medizin. Das bringt die hübsche Avatarin auf dunkle Gedanken: „Sollte ich mehr tun? Ich will auch helfen, ich will Menschen heilen! Ich will auch 22 werden! Wie würdet ihr euch fühlen, wenn ihr ewig 19 bleiben müsstet?“
Sofort möchte man Miquela aus der Matrix befreien. Vielleicht ist das ja der geheime Wunsch aller Influencer, sogar der nicht-virtuellen, endlich auszubrechen aus ihrer Fototapetenwelt, auszustöpseln, die rote Pille zu schlucken und etwas ausnehmend Hässliches, aber dafür Verlässliches zu umarmen.