AboAbonnieren

Prominente KölnerIhr Lieblingsbuch des Jahres

Lesezeit 6 Minuten
Die Autorin und Schriftstellerin Melanie Raabe steht mit dem Roman "Sperling" in der Hand vor einem Bücherregal.

Die Autorin und Schriftstellerin Melanie Raabe.

Moderatorin Bettina Böttinger und die Kölner Autoren Mona Ameziane, Volker Kutscher und Melanie Raabe erzählen, welche Bücher sie 2022 berührt und begeistert haben. Zum Verschenken an andere oder auch an sich selbst.

Melanie Raabe: „Sperling“ von Katharina Korbach

„Sperling“ ist ein sehr gelungenes Debüt - wenn ich nicht wüsste, dass es das erste Buch von ihr ist, würde ich auf jeden Fall vermuten, dass Katharina Korbach vorher schon etwas geschrieben hat. Denn sie hat einen total eigenen Stil und das Buch ist so reif, dass es mich wirklich erstaunt hat. Es geht um zwei sehr einsame Menschen, die sich in Berlin kennenlernen. Er ist Dozent, befasst sich viel mit Literatur, forscht zu Proust und kann von seinem Fenster im Hinterhof in das Fenster einer jungen Frau blicken. Und die beiden verbindet nach einer Weile eine Menge. Er stellt nämlich fest, dass sie in einem seiner Kurse sitzt.

Sie freunden sich ganz zart miteinander an und das Buch folgt den beiden, wie sie versuchen, Fuß zu fassen, ihrer Einsamkeit zu entkommen. Man könnte jetzt denken, dass sich da jetzt eine Liebesgeschichte entspinnt, aber so funktioniert dieses Buch nicht – es lotet die Zwischentöne von Beziehungen aus.

Ich habe das Gefühl, dass der Roman uns ganz, ganz viel über uns selbst erzählt - gerade jetzt in der auslaufenden Pandemie. Über das Überwinden von Einsamkeit, aber auch über die Unfähigkeit, Nähe zuzulassen. Die Figuren in diesem Buch haben so viele Probleme, aber sie gehen auf eine sehr poetische Art damit um. Und am Ende schimmert ganz viel Hoffnung auf, das ist total schön. Ich habe sogar ein bisschen geweint, als das Buch zu Ende war...

Katharina Korbach: „Sperling“, Berlin-Verlag, 320 Seiten, 22 Euro


Bestseller-Autor Volker Kutscher steht in einem schwarzen Mantel vor dem Neven DuMont Haus

Bestseller-Autor Volker Kutscher empfiehlt „Die Anomalie“

Volker Kutscher: „Die Anomalie“ Hervé Le Tellier

Ein Flugzeug aus Paris landet im März 2021 in New York. Und im Juni desselben Jahres landet genau dasselbe Flugzeug mit genau denselben Passagieren, die sich immer noch im März wähnen, ein zweites Mal… Das ist das Setting des Romans „Die Anomalie“, und genau diese ungewöhnliche Konstellation hat meine Neugier geweckt.

Ich mag Geschichten, die etwas Unbegreifliches zum Ausgangspunkt nehmen, diese Anomalie dann aber mit unerbittlicher Logik zu Ende denken, so wie es zum Beispiel der unverwüstliche Film „Groundhog Day“ tut. Und genau so eine Geschichte ist „Die Anomalie“.

Der Roman dekliniert anhand des verdoppelten Flugzeuges die Fragen durch, was passieren würde, wenn es rund 240 Menschen auf dieser Welt plötzlich doppelt gäbe. Also nicht nur als Doppelgänger, sondern wirklich identisch, mit dem einzigen Unterschied, dass das eine Ich dem anderen ein Vierteljahr Leben (oder Sterben) voraus ist. Und das macht Hervé Le Tellier sehr intelligent und mit bösem Humor. Und überdies auch gut geschrieben. Der Roman gibt unzählige Denkanstöße zu allen möglichen Fragen der menschlichen Existenz und ist zugleich äußerst unterhaltsam. Eine leider seltene Mischung.

Normalerweise lese ich am liebsten Zuhause, und dann am liebsten Hardcover-Bücher, aber zurzeit bin ich auf Lesereise und verbringe viel Zeit in Zügen und Hotels; die Anomalie habe ich mir deshalb als E-Book auf mein iPad geladen. Aber die gebundene Ausgabe lege ich mir auch noch zu. „Die Anomalie“ ist eines der Bücher, die man mindestens zweimal lesen muss. Und das werde ich auch tun. Dann aber gemütlich Zuhause im Sessel bei einer Tasse Kaffee oder einem Gläschen Wein.

Hervé Le Tellier: „Die Anomalie“, Rowohlt, 352 Seiten, 22 Euro.


Mona Ameziane steht mit ihrem Lieblingsbuch 2022 in der Hand in der Agnes Buchhandlung.

Moderatorin Mona Ameziane

Mona Ameziane: „Der Hausmann“ von Wlada Kolosowa

Der Roman „Der Hausmann“ dreht sich um ein Haus in einem Randbezirk von Berlin. Dahin zieht ein Paar, das im Zentrum der Geschichte steht. Thea macht Karriere bei einem Start-up für veganes Hundefutter und ist viel unterwegs. Aber Tim erlebt als Hausmann alles, was im Haus und in der Nachbarschaft passiert: Da gibt es zum Beispiel eine alte Dame, der er den Computer repariert. Sie hat einen Blog und daraus lesen wir in verschiedenen Kapiteln Posts. Dann lebt dort noch ein Geflüchteter aus der Ostukraine. Er führt ein Tagebuch und auch das lesen wir, weil er mit Tim zusammen Deutsch lernt.

Außerdem ist dieses Buch noch durchsetzt von Theas Chat-Verläufen, die jetzt mit ihrer besten Freundin zusammenarbeitet. Es geht ganz viel um Rollenverteilungen und die Frage, was das mit einer Beziehung macht. Es geht aber eben auch um Flucht, Armut und die Frage: Wie en vogue ist es eigentlich, sich komplett seiner Arbeit hinzugeben und daran kaputtzugehen?

Das Besondere an diesem Buch ist, dass die Autorin mit einem Illustrator zusammengearbeitet hat. Und der hat für dieses Buch eine Graphic Novel gezeichnet, die auch in die Geschichte integriert ist. Das ist nämlich das Projekt, an dem Tim zu Hause arbeitet. Und da geht es ums Klima – es kommen also wirklich alle möglichen gesellschaftspolitischen Themen zusammen. Sie werden aber so verwoben, dass es superkurzweilig ist.

Und ich hatte an keiner Stelle das Gefühl, dass es mir zu viel wird, oder dass es ein Flickenteppich ist. In meinem Bücherregal ist dieses Buch einzigartig und ich habe es schon sehr oft empfohlen in diesem Jahr, weil es ganz viel Aufmerksamkeit verdient.

Wlada Kolosowa: Der Hausmann, Leykam, 320 Seiten, 24 Euro.


Bettina Böttinger mit ihrem Lieblingsbuch des Jahres 2022

Bettina Böttinger mit ihrem Lieblingsbuch des Jahres 2022

Bettina Böttinger: „Die Flamme der Freiheit“ von Jörg Bong

„Die Flamme der Freiheit“ ist ein ganz großartiges Buch über den Beginn der Demokratie in Deutschland, über den man eigentlich viel zu wenig weiß. 1848 ist das Jahr, in dem in Deutschland zum ersten Mal für Freiheit und Demokratie gekämpft wurde. Und Jörg Bong beschreibt Geschichte zwar historisch genau, aber eben auch als großer Erzähler. Das heißt, dieses Buch ist hoch spannend und ein wirkliches Lesevergnügen - bei aller Detailfreude und allem Wissen.

Manches war mir ehrlich gesagt auch neu: Zum Beispiel, was für großartige Frauen in dieser Zeit des Aufbruchs nicht nur mitgemacht haben, sondern als Revolutionärinnen ganz weit vorne standen. Emma Herwegh zum Beispiel. Zum Teil in Männerkleidern, versteckt oder auf der Flucht vor der Polizei, hat sie gekämpft für die Demokratie in Deutschland - bevor dann ein Jahr später wieder Grabesruhe eintrat.

Dieses Buch hat mich wirklich total mitgerissen, vor allem, weil es so aktuell ist. Denn das Thema ist zwar historisch, aber ein Muss für alle, die heute wissen wollen, wie viel Demokratie wert ist. Es gibt eine direkte Verbindung, denn die Demokraten haben damals verloren. Weil sie von den Liberalen bekämpft worden sind.

Und das macht das Buch nicht nur wahnsinnig spannend, sondern auch wirklich gerade jetzt lehrreich und aufklärend.

Jörg Bong: „Die Flamme der Freiheit – Die deutsche Revolution 1848/49“, Kiepenheuer&Witsch, 560 Seiten, 29 Euro.