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Reinhold Beckmann über die Tragödie seiner Familie„Sie waren alle Rädchen in Hitlers System“

Lesezeit 7 Minuten
Reinhold Beckmann trägt ein graues Langarm-Shirt, er blickt in die Kamera.

Reinhold Beckmann wurde als Sportreporter und Moderator bekannt. Nun hat er ein berührendes Buch über seine Mutter und deren vier Brüder geschrieben, die alle den

Reinhold Beckmann hat ein berührendes Buch über seine Mutter und deren vier Brüder geschrieben, die alle den Zweiten Weltkrieg nicht überlebten. Wir verlosen Tickets für seine Lesung bei der lit.Cologne.

Herr Beckmann, Ihre Mutter hat ihre vier Brüder im Zweiten Weltkrieg verloren. Viele Menschen aus dieser Generation haben nicht über ihre Erlebnisse und Gefühle gesprochen, sie hingegen oft und ausführlich. Haben Sie eine Erklärung, warum Ihre Mutter sich so öffnen konnte?

Ja, das ist mir erst beim Schreiben aufgegangen. Sie hat sich dadurch selbst, zumindest in der Erinnerung, eine eigene Familie gebaut. Durch das Erzählen hat sie dieses Familiennetz erhalten, das sie in Wirklichkeit gar nicht hatte im Leben. Sie hat dafür gesorgt, dass wir alle in dieses Dorf Wellingholzhausen, in dem sie aufgewachsen war, fahren mussten. Ich habe einige Sommer dort verbracht. Von daher blieb ihr ‚erstes Leben’ immer präsent. Sie hat das Dorf in sich getragen.

Bei der Lebensgeschichte Ihrer Mutter ist es erstaunlich, dass sie nie ihren Glauben verloren hat. Wie erklären Sie sich das?

Ich selbst war in Glaubensdingen immer zerrissen. Ich habe Mutter bewundert, dass sie diese tiefe, unverrückbare Verbindung nach oben hatte. Als meine Mutter mit 98 Jahren gestorben ist, gab es auf dem letzten Weg überhaupt keine Zweifel. Sie hat sich vertrauensvoll in die Hand ihres Herrgotts gegeben, es war ganz klar, er holt sie ab. Wie hat sie das hinbekommen? Vier Brüder verloren, die Mutter ist im Wochenbett gestorben, der Vater, als sie vier Jahre alt war. Man steht staunend davor, versteht es nicht, weil der eigene Zweifel immer da ist. Ich blicke da schon ein bisschen neidisch drauf.

Konnten Sie mit ihr denn auch über Fragen von Schuld und Verantwortung reden?

Da gab es eine Scham. Meine Mutter war keine Intellektuelle, sondern eine ganz einfache Frau vom Land. Mit 13 raus aus der Schule, für sie war keine Bildung vorgesehen. Da war ein Schamgefühl, in diesem Hitler etwas gesehen und das Dunkle übersehen zu haben – bin ich zu blöd gewesen, fragte sie immer. Es war gut, dass wir vor ihrem Tod gemeinsam gegen Gauland und seine Aussage, der Nationalsozialismus sei nur ein Vogelschiss in der deutschen Geschichte, geklagt haben. Wir wollten uns das mit unserer Familiengeschichte nicht bieten lassen. Das hat uns noch mal verbunden, auch wenn die Klage letztendlich abgelehnt wurde. Es versucht zu haben, war uns wichtig.

Sie sagen, dass Sie mit Ihrem Vater heftiger gestritten haben als mit Ihrer Mutter.

Ich wusste, ich werde den Wehrdienst verweigern, ich habe gegen den Vietnamkrieg protestiert. Da hat es harte Auseinandersetzungen gegeben. Ich habe nicht verstanden, wie sie diesem Hitler verfallen konnten. Mein Vater hat versucht, es mir zu erklären: „Dem ist ja alles gelungen, plötzlich waren die Arbeitslosen weg, dann holt er Österreich zurück und dann das Sudetenland. Wir dachten ja schon, er könnte übers Wasser gehen.“ Ich konnte das damals nicht nachvollziehen. Erst durch die Beschäftigung mit dem Thema, durch Haffners „Anmerkungen zu Hitler“ ist mir manches aufgegangen.

Diese tiefe, tiefe Einsamkeit, diese Perspektivlosigkeit im Leben liest man aus allen Briefen heraus
Reinhold Beckmann über die Feldpost-Briefe seiner Onkel

Die Feldpost-Briefe wurden zensiert, man konnte nicht alles schreiben. Wie nah sind Sie Ihren Onkel dennoch gekommen?

Ich habe meine Onkel durch die Briefe erst richtig kennengelernt. Gerade Franz, der am längsten dabei war, bis zum 16. April 1945, und der auch am meisten, am offensten und ehrlichsten schreibt, habe ich richtiggehend aufgesogen. Zu ihm empfinde ich jetzt eine große Nähe. Hans kann ich auch verstehen mit seinem Ehrgeiz, er hatte sich vor dem Krieg verpflichtet, weil er ein sicheres Einkommen für sich und seine Familie wollte. Alfons ist der junge, erst 20 Jahre alte Sonnyboy. Für ihn ist Krieg zunächst ein Abenteuerspielplatz. Das geht von dem Tag an verloren, wo er in Russland ist. Die Briefe werden weniger. Das, was er formuliert, ist teilweise sehr melancholisch, trägt eine gewisse Schwere und Traurigkeit in sich - diese tiefe, tiefe Einsamkeit, diese Perspektivlosigkeit im Leben liest man aus allen Briefen heraus.

Aber es gibt doch sicher auch viele Leerstellen in diesen Briefen, vor allem wenn es um Verbrechen geht, die Deutsche begingen.

Mein Onkel Hans war in Polen ab dem 1. September 1939. Er war also dabei, als die Wehrmacht in die kleinen Dörfer und Städte ging, die jüdische Bevölkerung versammelte und die nachrückende SS diese abholte oder zum Teil vor Ort erschoss. Darüber schreibt er nicht. Meine Onkel mögen zwar alle nicht in der Partei gewesen sein, und Franz äußert sich oft sehr kritisch über den Krieg, aber Krieg ist Krieg. Sie waren alle Rädchen in Hitlers System. Man kann das nicht in Schwarz-Weiß aufteilen, da ist der Gute, da ist der Böse. Niemand kommt am Ende mit einer weißen Weste raus. Das gilt auch für meine Onkel.

Warum sind diese Geschichten, diese Briefe so wichtig?

Das alles erklärt, was Krieg mit uns macht. Auch heute noch, bald 79 Jahre nach dem Kriegsende, liegt er uns auf den Seelen. Und wenn man auf den Ukraine-Krieg schaut, ahnt man, wie viele Generationen es dauern könnte, bis der Konflikt zwischen der Ukraine und den Russen, der teilweise quer durch Familien geht, befriedet sein wird. Der große Schock ist, was Krieg hinterlässt. Auch wenn er vorbei ist, bleibt er, nicht nur in den Kleidern, sondern ganz tief drin in den Familien.

Das Cover von „Aenne und ihre Brüder“ zeigt vier junge Männer in Uniform auf einem Schwarz-Weiß-Foto.

Der Ausschnitt des Covers von „Aenne und ihre Brüder“ zeigt die vier jungen Männer, die alle nicht zurückkehrten

Es gibt bald keine Zeitzeugen mehr. Wie verändert das unseren Blick auf Krieg?

Ja, die Zeitgenossenschaft, so hat Frank Schirrmacher das mal beschrieben, stirbt. Sie ist bald nicht mehr da. Aber gerade was das Dokumentieren, das Aufschreiben und Erzählen von Geschichten betrifft, sind wir als nächste Generation in der Pflicht, das weiterzutragen. Die Generation, die aus dem Krieg kam, hat ja aus diesem Schuldgefühl heraus meist nichts erzählt. Mich freut und überrascht, dass regelmäßig junge Leute zu den Lesungen kommen, die ihre Eltern und Großeltern dabei haben. Das finde ich tröstlich und ein gutes Zeichen. Das ist nicht generationsmäßig entkoppelt. Sie sagen nicht, das gehe sie nichts an.

Sie haben wenige Tage, bevor Russland die Ukraine überfiel, mit dem Schreiben des Buches begonnen. Nun hören wir wieder die Namen der Städte, die auch in den Briefen vorkommen. Was hat dieser Krieg mit Ihnen, dem alten Hippiekind, wie Sie sagen, gemacht?

Mir ist viel von dieser süßen Naivität der 70er Jahre abhandengekommen. Ich habe lernen müssen, dass man mit Friedensdemonstrationen und Blumen im Haar auf dem Trafalgar Square Hitler nicht verhindert hätte, wie es Gerhart Baum sagt. Da kann ich nicht widersprechen. Trotzdem habe ich immer noch die Hoffnung, dass irgendwo hinter den Kulissen ein paar kluge Diplomaten sind, die über die Möglichkeit verhandeln, diesen Krieg bald zu beenden. Mein Großvater und sein Bruder waren Opfer des Stellungskriegs im Ersten Weltkrieg.

Den befürchten Sie auch in der Ukraine?

Ich bin kein Militärexperte, aber durch die Recherchen und viele Gespräche mit dem Militärhistoriker Sönke Neitzel und mit Boris Pistorius, der bei der Buchpräsentation in Osnabrück dabei war, habe ich die Befürchtung, dass in der Ukraine gerade ähnliches passiert. Es entscheidet sich nichts, aber es sterben tagtäglich unglaublich viele Menschen. Man muss diesen Krieg beenden. Ich denke, das geht nur auf einer diplomatischen Ebene.

Die Geschichte des Dorfes Ihrer Mutter zeigt auch, wie sich das Gift des Hasses schleichend ausbreitet, bis es zu spät ist. Was können wir daraus lernen in einer Zeit, in der die AfD in einigen Bundesländern in Umfragen vorne liegt?

Der 1. September, wenn Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen sind, wird ein wichtiger Tag. Da wird sich vieles entscheiden, nicht nur für diese beiden Bundesländer, da leitet sich viel für ganz Deutschland ab. Öffnen wir den Rechten die Türen zur Macht, die sie in ihrer Facon auslegen werden, ja oder nein? Ich bin froh, dass sich das Land demokratisch endlich neu wachgeküsst hat in den vergangenen Wochen, und die Menschen in Massen auf die Straße gehen, um die Rechten zu verhindern. Demokratie ist keine Betriebsform, in der man nur bedient wird. Demokratie verlangt viel Eigenverantwortung, und diese Verantwortung muss jetzt verstärkt wieder einsetzen, indem wir uns ganz klar bekennen. Wir wollen, dass Demokratie und Freiheit erhalten bleiben. Wir müssen diese Verantwortung tragen und diesen Einsatz zeigen.


Reinhold Beckmann (67) ist Journalist, Musiker und Produzent. Sein Buch „Aenne und ihre Brüder“ (Propyläen Verlag, 352 Seiten, 26 Euro) stellt er gemeinsam mit Marielle Millowitsch am 14. März, 18 Uhr in der Stadthalle Mülheim im Rahmen der lit.Cologne vor. Tickets kosten im Vorverkauf 18 bis 30 Euro (ermäßigt 15 bis 27 Euro).

Wir verlosen für den Abend 3 x 2 Karten. Wenn Sie gewinnen wollen, schreiben Sie bitte bis Dienstag, 8 Uhr, eine Mail mit Ihrem vollen Namen und dem Betreff „Beckmann“ an ksta-kultur@kstamedien.de.