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Richard David Precht„Die Zeiten sind empört – und werden noch empörender“

Lesezeit 13 Minuten
Richard David Precht

Richard David Precht

  1. Kommt der Staat in der Corona-Bekämpfung seinen Pflichten gegenüber den Bürgern nach – oder überzieht er?
  2. Der Philosoph und Bestseller-Autor Richard David Precht räumt ein, dass er die Wucht der Pandemie anfangs unterschätzt hat.
  3. Er spricht über die Gefahr der Triage, Gründe für die verbreitete Aggressivität und Machtkämpfe in der Politik.

Herr Precht, Sie reden in einem neuen Buch über Pflichtbewusstsein, Bürgerpflichten und die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der staatlichen Gemeinschaft. Tut eigentlich der Staat in der Corona-Krise noch seine Pflicht gegenüber den Bürgern?Richard David Precht: Aber ja! Staatsbashing ist völlig fehl am Platz. Wie viele andere habe ich anfangs unterschätzt, mit welcher Heftigkeit die Pandemie zuschlagen und wie lange sie uns begleiten würde. Zu Beginn überwog bei mir sogar die Verwunderung, dass der Staat im Fall einer – wie es mir vorkam – etwas heftigeren Grippe so massiv reagierte, während er bei einer so gewaltigen Herausforderung wie dem Klimawandel Entscheidungen auf die lange Bank schiebt und gerade nicht auf die Warnungen der Experten hört. Ich halte zwar daran fest, dass der Klimawandel menschheitsgeschichtlich die weitaus größere Bedrohung ist als Corona. Das enthebt uns aber nicht der Notwendigkeit, die Pandemie hier und heute mit den notwendigen Mitteln zu bekämpfen und die besonders Vulnerablen zu schützen.

Aber das gelingt doch seit Monaten nur mehr schlecht als recht. Mangelnde Vorbereitung auf die dritte Welle und eine verschleppte Impfkampagne hat Ihr Kollege Markus Gabriel aus Bonn als Versagen des Staates bezeichnet.

Ein bisschen pubertär. „Staatsversagen“ ist ein ziemlich kraftmeiernder Begriff, den – soweit ich sehe – die AfD in die Debatte eingeführt hat. Es geht auch eine Nummer kleiner. In einer Situation mit neu auftretenden Mutationen, in der langfristiges Planen schlicht unmöglich ist und auch die Wissenschaft keineswegs mit einer Stimme spricht, ist man verständlicherweise öfter überfordert. Man wird höchstens sagen können, dass die Impfkampagne ziemlich dilettantisch angepackt wurde und andere Länder das besser hinbekommen haben.

Noch einmal: Die Warnungen vor einer dritten Welle und zu frühen Lockerungen gab es. Aber sie wurden nicht beherzigt.

Das stimmt. Da haben sich viele handelnde Politiker als gute Kölner gebärdet, die ja stets der Überzeugung sind, „et hätt noch immer jot jejange“. Man hat darauf gehofft, dass die Experten sich irren. Aber haben viele Bürger das nicht genau so getan? Die weit überwiegende Zahl konnte sich doch nicht vorstellen, dass wir mehr als ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie immer noch damit zu kämpfen haben würden.

Dann ist der Zorn auf die Politiker eine Form nicht eingestandener Selbstkritik?

Ich für meinen Teil betreibe schon deshalb kein Politiker-Bashing, weil ich es auch nicht besser könnte. Diese Selbsterkenntnis vermisse ich bei so manchem Kritiker. Was mich besonders nervt, ist der dauernde Ruf der Opposition – von der FDP über die Grünen bis zur Linkspartei – nach „langfristigen Strategien“. Ein schönes Modewort, keine Frage. Aber ich frage mich erstens, worin genau eine langfristige Strategie bei einem so unberechenbaren Phänomen wie der Covid-19-Pandemie bestehen sollte. Und zweitens, mit wem man sie denn umsetzen wollte.

Was meinen Sie?

Wir haben nun einmal die Gesundheitsämter, Amtsärzte, Verwaltungen, die wir haben – und das in gleich 16 Bundesländern. Man kann ja nicht, passend für die Pandemie, einen neuen Staat designen, der dann mit dem Problem angemessen umgehen kann. Drittens missfallen mir völlig überzogene Erwartungen an die Politik, deren Kehrseite persönliche Schuldzuweisungen sind. Es gibt nicht einzelne Schuldige dafür, dass wir im April 2021 immer noch eine Pandemie haben. Was es gibt, ist die eine oder andere Panne, die eine oder andere Fehleinschätzung. Aber sich Buh-Leute auszusuchen, die in allem schuld sind, finde ich einfach nur fürchterlich.

Sie sagen, der Staat nehme in der Corona-Bekämpfung seine „biopolitische Verantwortung“ wahr. Was bedeutet das?

Als die Grundrechte im ausgehenden 18. Jahrhundert erstmals formuliert wurden, hat der Staat sich nicht im Mindesten darum gekümmert, dass seine Bürger diese Rechte auch ausleben konnten. Dem Arbeitssklaven in einer Textilfabrik mit 16-Stunden-Tag nutzt die Deklaration seiner Rechte überhaupt nichts, weil er nichts davon hat. Was bringt das generelle Recht auf körperliche Unversehrtheit, wenn der einzelne Mensch sich zu Tode arbeitet? Oder wenn er im Kriegsdienst verheizt wird? Im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert hat der freiheitlich-demokratische Staat sich deshalb mehr und mehr in Pflicht nehmen lassen, seinen Bürgern die Grundrechte nicht nur zu gewährleisten, sondern ihnen auch die Chance zu geben, sie zu verwirklichen. Damit wuchs der Pflichtenkatalog.

Tuberkulose am Anfang der „Biopolitik“

Ein besonders signifikanter Fall ist der Kampf gegen die Tuberkulose, an der die Menschen einst starben wie die Fliegen. Die Einsicht, dass der Staat selbst mit einer funktionierenden Kanalisation, Krankenhäusern, Gesundheitsämtern und Impfungen Seuchenherde löschen muss, steht am Beginn der „Biopolitik“ und der Idee vom Fürsorge- und Vorsorgestaat. Medizinische Maßnahmen gehören seither untrennbar zur Vorstellung des Wohlfahrtsstaates. In dieser guten Tradition ist jetzt auch die staatliche Pandemiebekämpfung zu sehen.

Und am Ende sorgt der Staat dann auch noch für kollektive Formen der Trauer – so wie vorigen Sonntag. Fanden Sie das passend?

Es war eine quasi-sakrale Zeremonie, für die es – unter Pandemiebedingungen – keine volle Kirche brauchte. Der Bundespräsident spricht seit Beginn dieser Pandemie ohnehin wie ein Pfarrer, in genau diesem klerikalen Singsang. Ich habe mich etwas gewundert, dass Frank-Walter Steinmeier sich für dieses Rollenmodell entschieden hat und finde es, sagen wir mal, aufgesetzt und gespreizt. Aber er ist offenbar der Ansicht, dass die Rolle des säkularen Seelsorgers dem Bundespräsidenten in dieser Zeit gut ansteht. In diesem Geist habe ich die Trauerfeier erlebt.

Steinmeier Gedenkfeier

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gedenkt der Menschen, die in der Corona-Pandemie gestorben sind.

Sie sprachen vom Gesundheitsschutz als biopolitischer Aufgabe des Staates. Muss der drohende Schaden für die Gesundheit, den es abzuwenden gilt, auf längere Sicht nicht gegen andere Schäden abgewogen werden, die aus den fortdauernden Beschränkungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens rühren?

Die tatsächlichen psychosozialen Schäden der Corona-Maßnahmen kennen wir nicht gut genug. Den bislang vorgelegten empirischen Studien misstraue ich zutiefst. Wenn zum Beispiel nach Art und Ausmaß physischer und psychischer Gewalt gefragt wird, denen Kinder in den Familien derzeit ausgesetzt sind, wüsste ich schon ganz gern, ob das in den Jahren vor Corona mit gleicher Akribie erforscht wurde. Richtig ist natürlich, dass Menschen durch die Pandemie wirtschaftlich und sozial in Mitleidenschaft gezogen wurden. Das abzuwenden ist wichtig, steht in der Rangordnung staatlicher Schutzpflichten aber nicht an erster Stelle.

Sondern?

Zurecht höher angesetzt ist die Pflicht, das Recht auf Leben zu schützen. Und zwar nicht absolut und in jeder Hinsicht. Sie dürfen sich nach wie vor das Leben nehmen, Sie dürfen sich auch tot saufen. Aber Sie sollten daran gehindert werden, andere mit einem tödlichen Virus anzustecken respektive davor geschützt werden, von anderen angesteckt zu werden. Ich würde hier von einer medizinischen Schicksalsgemeinschaft sprechen, die in der Abwägung der Grundrechte oberste Priorität hat. Dafür, so will es das Gesetz, können und dürfen – zeitweilig – andere Grundrechte eingeschränkt werden.

Geschieht das noch in ausgewogener Weise – wenn Sie etwa an die jetzt beschlossene Ausgangssperre denken?

Das will ich nicht beurteilen. Ich kenne aber auch niemanden, der das kann. Es ist ein Herumgetaste auf allen Seiten. Bei denjenigen, die die Maßnahmen beschließen, ebenso wie bei denjenigen, die sie kritisieren.

Wenn es hart auf hart kommt, könnte schon bald Lebensrecht gegen Lebensrecht stehen. Stichwort: Triage.

Ich hoffe nicht, dass es dazu kommt. Wir schaffen es im Moment, täglich etwa eine halbe Million Menschen und mehr zu impfen. Wenn wir dieses Tempo aufrechterhalten können, müssen wir doch hoffentlich bald nicht mehr über Triage reden.

Sie wollen lieber nicht über das Problem reden…

… Ich will es, wie die Bundesregierung auch, lieber überholen.

Aber Sie sorgen sich offenbar schon um die sozialen Bindekräfte, um Solidarität und Zusammenhalt, wenn sie sich über das schon vorhandene Ausmaß an Wut und Entsolidarisierung in unserer Wohlstandsgesellschaft wundern. Geht es uns etwa zu gut?

Das würde ich nicht sagen wollen. Tatsächlich bin ich aber immer wieder erstaunt, dass in einem Land mit geringer Arbeitslosigkeit, bei guter Konjunktur und hohen sozialen Standards so viel unterschwellige Aggressivität herrscht. Wenn führende Köpfe der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert von einem funktionierenden bürgerlichen Staat träumten, unsere freiheitliche Ordnung, unser Rechtssystem, den Sozialstaat und unser Wohlstandsniveau sähen, wären sie begeistert, aber gleichzeitig fassungslos über das Ausmaß an Aggressivität und Argwohn gegenüber diesem Staat.

Aber was wollen Sie nun damit sagen?

Mir macht das Angst, weil ich sehr schwierige Zeiten auf uns zukommen sehe. Die beiden großen Revolutionen des 21. Jahrhunderts, die Nachhaltigkeits- und die Digitalrevolution, werden auf unserem Arbeitsmarkt keinen Stein auf dem anderen lassen. Ich fürchte, Millionen von Arbeitnehmern sind darauf schlecht oder gar nicht vorbereitet. Wenn nun viele schon heute dermaßen aggressiv sind, wie viele werden es dann morgen oder übermorgen sein, wenn der Wandel sie mit Wucht trifft?

Und Sie denken, das bekommt man durch ein Revival des Pflichtbewusstseins in den Griff?

Das ist kein Allheilmittel. Aber ich finde, wir müssen jetzt unsere Phantasie anwerfen und überlegen, wie sich Empathie und Gemeinsinn aktivieren und fördern lassen.

Durchsetzbar sind alle staatlichen Vorgaben in der Pandemie doch ohnehin nur mit Hilfe der Bürgerinnen und Bürger. Wie ist es um das Pflichtbewusstsein bei der Einhaltung von Regeln bestellt?

Einsichtsfähigkeit, Empathie und Pflichtgefühl sind im Großen und Ganzen noch ganz gut im Takt. Gäbe es einen solchen Gemeinsinn nicht in diesem Maße, hätten wir bei den Infektionszahlen noch ganz andere Verhältnisse. Unbestreitbar ist einer kleinen Minderheit das Gemeinwohl ziemlich gleichgültig, aber das ist wahrscheinlich eine Erfahrung, die Sie in jedem Gemeinwesen in jedem Land dieser Erde machen könnten.

Also eine Größe, die man vernachlässigen kann?

Epidemiologisch natürlich nicht. Aber moralisch gesehen, würde ich sagen, ja. Wir können – Gottseidank! – nicht mit diktatorischen Mitteln erzwingen, dass die Auflagen eingehalten werden und sind deswegen auf ausreichend Urteilskraft und Einsichtsfähigkeit angewiesen. Ich halte die Zahl derer, die sich selbst aus der Pflicht nehmen, allerdings für überschätzt und medial überrepräsentiert. Querdenker sind eine verschwindende Minderheit – und die besonders Verhaltensauffälligen sind die Minderheit in der Minderheit.

Wir sehen aber in der Pandemie, dass kleine Minderheiten ausreichen, um die Inzidenzwerte weiter steigen zu lassen.

Ja, aber ich will das nicht an einzelnen Gruppen festmachen, an „den Jungen“ zum Beispiel. Erstens halten sich auch viele junge Menschen an die Regeln, und zweitens sind die Jungen auch diejenigen, die den höchsten Preis zahlen. Kontaktverbote sind für 18-Jährige etwas ganz anderes als für 65-Jährige.

Zur Person

Richard David Precht, geboren 1964 in Solingen, ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Precht hat in Köln Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte studiert. 1994 wurde er mit einer Arbeit über Robert Musil zum Doktor phil. promoviert.

2007 erschien seine Einführung in philosophische Grundsatzfragen unter dem Titel „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“, der in den folgenden Jahren eine Reihe weiterer populärwissenschaftlicher Bestseller folgte. In mehreren Büchern nahm Precht zu gesellschaftlichen Fragen Stellung, so zur Zukunft der Bildung und der Arbeit unter den Bedingungen von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz.

2012 startete das ZDF die TV-Talkreihe „Precht“, in der wechselnde Gesprächspartnerinnen und -partner aus Politik und Gesellschaft bei Precht zu Gast sind. (jf)

Der Psychologe Stephan Grünewald warnt vor einer Korrosion des Pflichtgefühls und dem Aufbau eines „Schattenalltags“ (hier lesen Sie mehr), in dem jeder sich seine eigenen Regeln macht. Teilen Sie die Besorgnis?

Ich teile die Diagnose. Aber ich siedle die Ursache anderswo an: Unsere Alltags-Ökonomie ist genau darauf angelegt, stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein auf Kosten anderer. Wir haben ein Preissystem aufgebaut, in dem man dafür belohnt wird, trickreich und clever zu sein. Wir sind damit zugleich darauf konditioniert, dass der Ehrliche der Dumme ist. Und die Menschen sind im Zweifelsfalle lieber die Bösen als die Dummen. Dass das nicht nur für die Buchung des nächsten Supersparpreis-Tickets der Deutschen Bahn gilt, sondern unsere Mentalität insgesamt bestimmt, besorgt mich sehr – und angesichts unterlaufener Corona-Regeln sehe ich mich bestätigt.

Der Kapitalismus ist schuld…?

Bestimmte Auswüchse des Kapitalismus, die uns auf maximalen Egoismus gepolt haben.

Was setzen Sie dem entgegen?

Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir das wieder vollständig zurückgedreht bekommen. Deshalb bleibt nur die Möglichkeit, die Quellen des Gemeinsinns und des Pflichtgefühls anzuzapfen und zu kultivieren. Mein Vorschlag von sozialen Pflichtjahren (hier lesen Sie mehr) zielt in diese Richtung.

Schon wieder die Pflichten der Bürger gegenüber der Allgemeinheit. Was ist denn mit den Pflichten, die Repräsentanten des Staats gegenüber den Bürgern haben? Ist der jüngste Kampf in der Union um die Kanzlerkandidatur nicht so machtversessen wie pflichtvergessen?

Puh, da schwingen Sie jetzt aber die große Keule! Dass zwei Politiker aus zwei Schwesterparteien beide gern Kanzler werden wollen und ihr Anspruch auf die Kandidatur nun just in eine Zeit gefallen ist, in der Corona nach über einem Jahr noch nicht ausgestanden haben, ist eine unglückliche Verkettung von Umständen, aber kein Beweis für Pflichtvergessenheit in der Politik.

Machtkämpfe gehören in den Pflichtenkatalog des Politikers?

Machtkämpfe sterben jedenfalls nicht aus – Pandemie hin oder her.

Genauso wenig wie Korruption und Selbstbedienung – Stichwort „Maskenaffäre“.

Dass das hochgradig skandalös ist, darüber müssen wir nicht reden. Aber haben Sie geglaubt, die 700 Bundestagsabgeordneten seien durch die Bank integre Menschen? Ich nicht. Deswegen wundert es mich auch nicht, dass Einzelne die Lage ausgenutzt haben, um sich zu bereichern. Aber das ist kein Problem „der Politik“. Das Fehlverhalten Einzelner rechtfertigt nicht die Unterstellung unlauterer Motive gegenüber dem Staat und seinen Vertretern. Ich sehe in der ganzen Corona-Krise keine finsteren Absichten des Staates. Und der Schub, den die Arbeit an verschärften Transparenzregeln bekommen hat, zeigt im Gegenteil ein Bemühen, Fehlverhalten und kriminelle Machenschaften von Mandatsträger bestmöglich zu verhindern.

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Aus wie vielen Einzelfällen wird ein Strukturproblem?

Auch hier müssen wir mal die Kirche im Dorf lassen oder wenigstens schauen, wie das Dorf sich entwickelt hat. Ein Franz Josef Strauß wurde arm geboren und starb sehr reich, was sicher nicht an seinen Bezügen als Minister in Bonn oder Ministerpräsident in München lag. Den Möglichkeiten für Politiker, solch einen Reibach zu machen, sind heutzutage sehr viel engere Grenzen gesetzt.

Strauß steht auch für einen bestimmten Politiker-Typus, der bis heute bei vielen hoch im Kurs steht. Sie sinnieren über einen „begnadeten Coach“ oder „Dirigenten“, der die vielen Stimmen und widerstreitenden Kräfte gebündelt bekommt. Auf der Suche nach der charismatischen Führungspersönlichkeit?

Es ist eine einfache Rechnung: Für die Zeiten, in denen es relativ vielen Menschen in Deutschland relativ gut ging, war Angela Merkel genau die richtige Kanzlerin. Wenn nun die Zeiten unruhiger und härter werden, wächst die Sehnsucht nach starken Machern. Das dürfte auch die nächstliegende Erklärung sein, warum Markus Söder höhere Sympathiewerte hat als Armin Laschet.

Ein Plädoyer Precht pro Söder?

Ohne Söder das Wort zu reden, glaube ich generell, dass wir Politiker brauchen, die in den eben beschriebenen Herausforderungen einer sich wandelnden Welt nicht auf Sicht fahren, sondern mutig und strategisch entscheiden. Ich würde mir jedenfalls wünschen, dass die Menschen, die künftig dieses Land regieren, mehr Kraft dazu haben als die bisherige Regierung.

Aber Sie nennen keine Namen?

Politiker der von mir beschriebenen Art sind selten. Ich fürchte sogar, dass derzeit alle unter der Messlatte dieser Erwartungen durchrutschen. Politiker, die den Menschen reinen Wein einschenken in Hinblick auf die Turbulenzen der Zukunft, hätten noch am ehesten die Chance, den Zusammenhalt zu bewahren und die Menschen trotz der beunruhigenden Umstände nicht zu empörten Menschen zu machen.

Wütend sind sie doch schon, haben Sie eben gesagt.

Aber die Erregbarkeit hat ihren Grund nicht im Verhalten der Politiker, sondern in der Größe der Probleme. Die Zeiten sind empört – und sie werden noch empörender.