Jo Lendle kommt mit „Die Himmelsrichtungen“ nach Köln - ein rundum unterhaltsamer Roman über eine eindrucksvolle Frau.
Roman über Flug-PionierinDiese Frau inspiriert Musikerinnen, Autoren und Filmemacher
Vor ihrem Flug um den Erdball, im Juli 1937 und immer am Äquator entlang, ist die amerikanische Pilotin Amelia Earhart zu Gast in einem Filmstudio. Was sie denn so sehr reize, fragt der Moderator, als erster Mensch diesen Trip zu wagen. Amelia Earhart muss nicht lange überlegen: „Manchmal müssen Frauen zeigen, dass sie können, was Männer können. Und manchmal müssen sie zeigen, dass ihnen etwas gelingt, was noch kein Mann gewagt hat.“
Es sind Sätze wie diese, mit denen Amelia Earhart (1897-1937) zur Ikone wurde. Nicht nur war sie eine Pionierin der Fliegerei, sondern auch eine Lichtgestalt der Frauenbewegung. Als Lyrikerin trat sie zudem hervor. Es steckt so viel drin in dieser Vita, dass diese schon in einigen Büchern und Filmen zur Darstellung gelangt ist. Auch in der Musik – so erscheint an diesem Freitag das Album „Amelia“ von Laurie Anderson. Nun legt Jo Lendle einen Roman vor, in dem das Heldinnenleben der US-Amerikanerin erzählt wird: „Die Himmelsrichtungen“.
Der Autor stützt sich dabei auf Amelia Earharts Schriften, Logbücher und Überlieferungen. Auch habe er ihre Gedichte und viele der Briefe wörtlich übersetzt, schreibt er in einer Nachbemerkung. Kurzum: „Im Grunde hat sie dieses Buch geschrieben.“ Das ist einerseits ein sympathisches Zeugnis von Bescheidenheit. Andererseits ist es auch ein bisschen tricky. Denn sobald man bei der Lektüre über eine hochgetrimmte Formulierung stolpert, was ein oder zweimal vorkommt, ist sie nicht dem Autor anzukreiden. Er tritt ja nur als Medium von Amelia Earhart auf.
Die Ich-Erzählerin gewährt uns tiefe Einblicke in ihr Denken und Handeln. Sie erzählt griffig und zuweilen lakonisch, in oft kurzen Sätzen und einem angenehm zügigen Tempo. Was sie mitzuteilen hat, ist selbstredend faszinierend: Der Flugunterricht mit Neta Snook, ein Höhenweltrekord, dann nonstop über den Atlantik, das „Puderquasten“-Wettfliegen, die Spritztour mit der Präsidenten-Gattin Eleanor Roosevelt und schließlich die unvollendete Weltumrundung. Zwischendurch noch zahlreiche Vorträge über das Fliegen („Flying for Fun“) und insbesondere über die Rolle der Frauen in der Luftfahrt.
Amelia Earhart war in Gesellschaft und am Steuerknüppel eine coole Erscheinung. Als Flammen aus dem Flugzeugmotor schießen, ist das für die Pilotin „nichts Wildes“, wie sie schreibt: „Jedenfalls nichts, was sich mit einem Feuerlöscher nicht beheben ließ.
Kecke Dialoge machen deutlich, mit welchem Selbstbewusstsein Amelia Earhart in der Männerwelt reüssierte. Einmal sagt sie: „Nichts auf Erden ist so fundamental unwillig zur Veränderung wie der Mann.“ Und sie fügt an: „Ich werfe es ihnen nicht einmal vor, sie haben viel zu verlieren.“ Erst den sechsten Heiratsantrag des Verlegers George Putnam akzeptiert sie. Tradierten Rollenbildern, das darf auch er erfahren, kann sie nicht viel abgewinnen.
Wenngleich wir viele Details erfahren, bleibt eine Frage offen, die seit bald hundert Jahren gestellt wird: Wie kam sie ums Leben? Zahlreich sind die Theorien, was im Juli 1937 geschehen ist, als sie die vorletzte Etappe ihrer Weltumrundung ansteuerte – die Howland-Insel im Pazifik. Auf dem unbewohnten Eiland, wo ein Benzin-Depot bereitstand, kam das Flugzeug nie an. Amelia Earhart ist seitdem verschollen, ebenso ihr Navigator Fred Noonan.
Die Geschichte beginnt mit dem Ende
Jo Lendle, der zuvor den Roman „Eine Art Familie“ veröffentlicht hat, lässt die Geschichte mit dem Ende beginnen. Von dort schreitet er Kapitel für Kapitel zurück in der Biografie. Bis in die Kindheit. Auf den letzten Seiten gibt es dann noch eine kurze „Reprise“, die zum Romanbeginn zurückführt. Warum das?
Einmal wird Amelia von ihrem Ehemann gebeten, die Reiseerlebnisse mit einem anderen Mann rückwärts zu erzählen, weil man dann nicht lügen könne, wie er meint. Und so erzählt uns Amelia auch in diesem Roman ihr Leben vom Ende her. Das macht zwar keinen Sinn und ist literarisch unergiebig. Aber das Verfahren stört auch nicht weiter. Nur – diese so geradlinige Frau hätte im wirklichen Leben wohl nicht eine solche Rolle rückwärts gemacht.
Im Roman selbst jedenfalls lernen wir Amelia Earhart als unprätentiöse Persönlichkeit kennen. Der Erfolg, der aufgrund von Mut, Intelligenz und Ausdauer nicht ausbleiben konnte, scheint ihr nicht zu Kopf gestiegen zu sein. Jo Lendle schildert sie als eine Frau, die sehr gut allein klarkam. Ohne die große Öffentlichkeit. Womöglich war dies der Urgrund für ihre Leidenschaft, in die Luft zu gehen und die Himmelsrichtungen zu erkunden. Da oben hatte sie ihre Ruhe.
Dass der Hanser-Verleger Jo Lendle wie schon sein Vorgänger Michael Krüger immer wieder Zeit findet, selbst ein Buch zu schreiben, ist erstaunlich genug. Zumal auch noch eine intensive Lese-Tournee hinzukommt. Aber was kümmert es uns! Entscheidend ist, dass wir Leserinnen und Lesern Grund zur Freude haben: „Die Himmelsrichtungen“ ist ein rundum unterhaltsamer Roman um eine außerordentlich eindrucksvolle Frau. Bei diesem Literaturflug checkt man gerne ein: „Relax and enjoy the flight“.