Rosalía füllt in Spanien und Lateinamerika Stadien. Bei einem ihrer ersten Deutschlandauftritte immerhin die Mitsubishi Electric Halle. Hier konnte man die ungewöhnlichste und wohl auch beste Show des Jahres erleben.
Rosalía in DüsseldorfDieser Sängerin gehört die Zukunft
Auf der weißen Leinwand, die fließend in eine grellweiße Bühne übergeht, kritzelt eine unsichtbare Hand die Lettern des Alphabets. Und Rosalía, Weltstar aus Katalonien, buchstabiert mit ihren Fans von A bis Z. Sie trägt ein kurzes Kleid, so rot wie das Kunstblut in italienischen Giallo-Thrillern oder wie die Sofabezüge in den Filmen Pedro Almodóvars. Sie hält ihr Mikro in die erregte Menge, die ruft ihr zu: A wie Alien, D wie Dynamit.
Ach nein, so ordnet es die Sängerin auf ihrem dritten Album „Motomami“ zu. Bei dem handelt es sich laut der Seite metacritic.com, die hunderte von Bewertungen zusammenfasst und auswertet, um das best besprochene Album 2022. In der Mitsubishi Electric Halle weichen die Zurufer aber vom Text ab. D steht jetzt natürlich für Düsseldorf. Was unerwartet entzückend klingt, wenn Rosalía es lispelt.
Nach einem Termin in Berlin ist das hier erst ihr zweites Deutschlandkonzert. In Spanien und Lateinamerika und seit diesem Jahr auch in den USA verkauft Rosalía längst Stadien und Arenen aus. Wie ja überhaupt Latino-Rhythmen wie Reggaeton (und Champeta, Bachata oder Dembow) seit einigen Jahren das Pop-Geschehen vor sich her treiben. Der puerto-ricanische Reggaeton-Rapper Bad Bunny zum Beispiel ist das dritte Jahr in Folge der meistgestreamte Künstler auf Spotify, vor Taylor Swift, vor Drake.
„La noche de anoche“, ihr Duett mit Bad Bunny, singt Rosalía im Fotografengraben, beugt sich ihren Fans rückseitig entgegen, überlässt ihnen einzelne Strophen, posiert für gemeinsame Selfies. Einige halten Pappschilder hoch, die verkünden, dass sie aus Costa Rica oder Kolumbien stammen, vielleicht sogar eigens angereist sind, wer weiß. Es lohnt sich: So nah wie hier kommt man der Sängerin nirgendwo sonst. Die Mehrzahl der Menschen in der Halle ist jedenfalls des Spanischen mächtig. Wenn Rosalía in gefühligen Flamenco-Stücken die phrygische Tonleiter hinauf und wieder herunterklettert, singt das Publikum lauthals mit.
E steht für Enigma und enterada, herausgefunden: das Rätsel und seine Lösung. Ein wenig mysteriös ist der Erfolg von Rosalía nämlich schon: „El mal querer“, das Album, das sie zum Star machte, war ihre Abschlussarbeit an der Escola Superior de Música de Catalunya gewesen, ein experimenteller Songzyklus, der den Spuren eines höfischen Romans aus dem 13. Jahrhundert folgte und sich bisweilen weit ins Elektronische und Geräuschhafte hinauswagte. Im Stück „De aquí no sales“ etwa singt sie allein zur Begleitung aufbrausender Motorräder.
Auf der leergefegten Bühne ziehen dazu ihre acht Tänzer immer engere Kreise um die Sängerin, ein Steadicam-Kameramann wiederum umkreist die Tänzer in gegenläufiger Richtung. Auf den großen Videowänden im Tiktok-gemäßen Hochkantformat wirkt das wie der fiebrige Blick eines eingesperrten Tiers, wie ein Stier, der im nächsten Augenblick in die Arena geschickt wird.
Im Spiegelkabinett des Selfie-Zeitalters
Die Steadicam und dazu noch einige kleinere mobile Kameras spielen sowieso eine Hauptrolle an diesem Abend, und erzeugen verwirrende Spiegelungen: Eine Kamera, die Rosalía dabei filmt, wie sie sich filmt. Der Star, der ins Unendliche vervielfacht live auf die Videowände übertragen wird. Hunderte hochgehaltener Handys, die wiederum die Sängerin abfilmen, vor dem Hintergrund ihrer vergrößerten Abbilder. Man konnte an diesem Abend also einiges über Selbstbilder im Zeitalter des Selfies lernen, der künstlichen Herstellung der eigenen Authentizität.
Was auf dem ersten Blick weniger als Konzert, sondern eher wie eine Kunstperformance oder wie modernes Tanztheater wirkt, spricht sehr viel direkter zu uns und unserem selbst vermarktenden Selbstbild, als es der Rock-Frontalunterricht älterer Generationen oder die Konfettiparaden aktueller Pop-Acts je könnten.
Es bleibt die Musik: Die kommt zum größten Teil aus der Festplatte, auf der sie auch entstanden ist. Einmal spielt Rosalía wenige Akkorde auf einer E-Gitarre, dann setzt sie sich kurz an einen Flügel. Aber das hat eher optische Gründe, eine weitere Star-Inszenierung (und zugleich deren kritischer Kommentar), so die Stücke, die sie singt, während sie im Make-up-Stuhl frisch gepudert wird, oder während sie sich kaltes, klares Wasser über die Haare schüttet.
Der wahre Focus liegt, all der eindrücklichen Optik zum Trotz, auf Rosalías Stimme. Die durchdringt die tiefsten Bässe, springt mühelos von Oktave zu Oktave und wagt sich selbst nach fast zwei Stunden Verausgabung noch an die schwersten Schmachtballaden, wie etwa das Cover von „Delirio de Grandeza“. Größenwahn? Mitnichten! Q steht in Rosalías alphabetischem Steckbrief für „qué reinona“. Man kann sich dieser Selbstbespiegelung nur anschließen: Was für eine Königin!