Mit dem Publikum auf Augenhöhe: Die Dresden Frankfurt Dance Company spielt „À la carte“ in Essen.
RuhrtriennaleMomente echter Kunst im kalkulierten Chaos
Kein Festival ohne interaktive Programmpunkte, auch die Ruhrtriennale setzt auf die Zuschauer-mobilisierende Partizipation, die vermeintlich gegen die Hierarchien der Repräsentation rebelliert und Basisdemokratie verheißt. Und sie hat sich dafür eine Kompanie eingeladen, die nach einer radikalen Metamorphose derzeit zu den charmantesten „Publikums-Umarmern“ der deutschen Tanzszene zählt: die Dresden Frankfurt Dance Company, kurz DFDC. Berühmt wurde sie einst als William Forsythes Experten-Trupp für zeitgenössisches Ballett der Spitzenklasse. Zwar hatte schon Forsythe, der bedeutendste Klassik-Rebell in der Geschichte des Tanzes, kein formales Experiment ausgelassen, also auch nicht die interaktive Performance. Trotzdem erwartete man bei DFDC lange doch eher supersmartes, stylishes Tanzgeschehen von oft einschüchternder Intellektualität. Und jetzt?
Als lachend-kreischender Haufen kindlicher Clowns entern die Tänzerinnen und Tänzer die Bühne in Fummeln, die mit erlesen schlechtem Geschmack offenbar aus dem Kostümfundus zusammengeklaubt wurden. Sie werfen Handküsse und „I love you“-Jauchzer ins Publikum und mit „This is for you“ schenken sie einzelnen Zuschauern ein paar Sekunden Solotanz.
Alle Kunst dem Volke lautet hier die Devise
Alle Kunst dem Volke lautet hier die Devise, auch wenn sich in der nächsten Szene zu live gespielter barocker Geigenmusik höfische Schnörkel in die Gruppenchoreografie mischen wie einst bei Sonnenkönig Ludwig XIV. In keiner Sekunde werden wir, die betrachtenden Besucher, ins Dunkel verbannt und vergessen. Stattdessen klettern die rund 15 Tänzerinnen und Tänzer durch unsere Sitzreihen, singen mit uns gemeinsam Titanic-Liebesschnulzen und fordern ein bisschen wie beim Spiel Scharade Stichworte von einzelnen Zuschauern ein, die dann das Bühnengeschehen beeinflussen sollen - wobei man rätseln darf, ob der weitere Verlauf des Abends wirklich durch Wunsch-Begriffe wie „Zombiehorror“, „Romance“ und „Glitter“ bestimmt wurde.
„À la carte“ heißt die im Weltkulturerbe PACT Zollverein in Essen gezeigte Performance, bei der die Kompanie offenbar spontan aus einem ‚Menü‘ Szenen-Optionen auswählt. „Live-Choreografie“, also Bühnenkunst als einzigartiges, improvisiertes und von Emotionen gesteuertes Ereignis, das wesentlich von den Stimmungslagen der Zuschauer mitbestimmt wird - so lautet das sympathisch philanthropische Konzept von Ioannis Mandafounis, der seit 2023 Kompaniechef der DFDC ist. Ein Statement fürs Soziale, statt bewunderten Virtuosentums.
Allerdings ist die Methode selbst auch schon der ganze Inhalt des Abends. Wer vom Theater Welterklärung und -gestaltung erwartet, dürfte enttäuscht werden. Dafür garantiert die Tanz-Kulinarik gute Laune, verblüfft auch immer wieder, wenn sich unvermittelt ein zärtlich-homoerotisches Duett herauskristallisiert oder wenn bei einer Attacke auf ein hereingefahrenes Schlagzeug der maximale Krach allmählich in stiller Behutsamkeit verlischt. Momente echter Kunst im kalkulierten Chaos.