Die „Werq the World“-Tour mit Stars aus „RuPaul's Drag Race“ machte in der Lanxess-Arena Halt.
„RuPaul's Drag Race“ in KölnEine Verwandlungsfantasie in Lack und Leder
Als José Luis Cancel unter seinem, Verzeihung: ihrem Drag-Namen Vanessa Vanjie Mateo an der zehnten Staffel von „RuPaul's Drag Race“ teilnahm, blieb das ein kurzes Vergnügen. Schon in der ersten Episode der amerikanischen Reality-Show schied Miss Vanjie aus, als erste von 14 Dragqueens, die sich um den Titel „America's next drag superstar“ bewarben.
Eine Dragqueen ist kein Travestie-Künstler, auch wenn die Grenzen fließend sind. Es reicht nicht, auf der Bühne in Frauenkleider zu schlüpfen, die Dragqueen erschafft eine zweite Glamour-Persona, hyperfeminin, oder doch eigentlich ein drittes (oder viertes, etc.) Geschlecht.
„RuPaul's Drag Race“ begann in der Nische, heute ist es ein weltumspannendes Phänomen
RuPaul Charles, die wohl international berühmteste Dragqueen, hat ihr „Drag Race“ 2009 auf dem kleinen Digitalsender Logo, dem schwulen Ableger von MTV, vorgestellt. Damals war die Castingshow noch ein Nischenprogramm in der Nische, eine billig produzierte Parodie von „America's Next Top Model“. Heute ist „RuPaul's Drag Race“ ein weltumspannendes Phänomen, mit zahlreichen Spin-offs und länderspezifischen Ablegern, und allein ihre Teilnahme an der Show macht die jeweiligen Dragqueens zu Stars.
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So auch Vanessa Vanjie Mateo: Die verließ nach ihrem unrühmlichen Ausscheiden im Lip-Sync-Wettbewerb – dem lippensynchronen Performen zum Song einer Disco-Diva, in diesem Fall Christina Aguileras vielsagendem „Ain't No Other Man“ – den Laufsteg auf spektakuläre Weise, nämlich rückwärts und dabei dreimal hintereinander ein „Miss Vanjie“ herauspressend. Der Moment wurde zum Meme, das es bis in die „Simpsons“ schaffte – und Miss Vanjie durch ihren eigenen Abgesang zum Star.
Als Miss Vanjie im zweiten Teil der „RuPaul's Drag Race: Werq the World“-Tour endlich ihren großen Auftritt hat, mit rot-schillernder Perücke und bronzenem Bustier zu Billie Eilish und Beyoncé performt, überschlägt sich der Applaus in der Lanxess-Arena. Die ist indes nur halb voll. Vielleicht hat RuPaul ja recht mit seiner Vorhersage, dass dem Erfolg seiner Show zum Trotz Drag niemals ganz im Mainstream ankommen werde, „weil Drag den Status Quo bedroht“.
Seit diesem Herbst gibt es endlich auch eine deutsche Ausgabe des Wettbewerbs, zu sehen auf dem Streamingdienst Paramount+, und deshalb eröffnen nun zum ersten Mal deutsche und österreichische Dragqueens die Show. Die fünf Bestplatzierten und die Kölner Lokalmatadorin The Only Naomy. Die tritt im „The Handmaid's Tale“-Kostüm auf, das selbstredend eiligst abgelegt wird.
Das regionale Spektrum reicht vom Gothic-Manga-Style des Metamorkid aus Wien über die athletische Pandora Nox bis zur glamourösen Diva alter Schule: Kelly Heelton aus Wiesbaden singt auch als einzige selbst, Dua Lipas „Don't Start Now“. „Vergesst nicht: Drag is not a crime“, mahnt Heelton am Ende ihres Auftritts. Denn das Geschlechterspiel ist unweigerlich politisch. Dass Dragqueens auch in Deutschland in Kindergärten auftreten, um dem jungen Publikum aus altersgerechten Büchern vorzulesen, halten Menschen wie Hubert Aiwanger für „Kindswohlgefährdung und einen Fall fürs Jugendamt“.
Tatsächlich ist „Drag Race“ trotz zahlloser Anzüglichkeiten das familienfreundlichste Programm der Welt. Während Heidi Klums Modell-Programm Disziplin, Normierung und rücksichtslosen Konkurrenzkampf propagiert, verbreitet RuPaul humanistische Werte und schafft eine Solidargemeinschaft beschädigter Paradiesvögel: Wer von der intoleranten Gesellschaft ausgestoßen wurde, kann immer noch eine Wahlfamilie finden.
Die Dragqueen spielen „The Matrix“, mit wackelnden Pobacken statt Kung-Fu
Aquaria, die Gewinnerin der Staffel, in der Miss Vanjie letzte wurde, leitet die eigentliche Show ein: Man wolle die Geschichte einer Hackerin erzählen, die eines Tages eine seltsame E-Mail erhält, die ihr eröffnet, dass sie in einer Simulation lebt. Wer schon einmal „The Matrix“ gesehen habe, wisse, was man erzählen wolle, auch wenn das nicht ganz geklappt habe.
Von wegen: Die Dragqueen spielen mehr oder weniger exakt die „Matrix“ nach, nur, dass an Stelle der Kung-Fu-Kämpfe Lip-Sync-Battles ausgetragen werden oder die Kontrahentinnen sich mit wackelnden Pobacken bedrohen. Den Status Quo bedrohen in diesem Fall Aquarias „Courage, Uniqueness, Nerve and Talent“, laut RuPaul die wichtigsten Eigenschaften einer Dragqueen und über das Akronym, das sie bilden, lacht man auch noch nach 15 Staffeln.
Was „Werq the World“ fehlt, ist der an John-Waters-Filmen geschulte Trash-Faktor, mit dem in der TV-Show bekannte Inhalte gequeert werden. Man ist fast froh, als Kandy Muse kurz mit ihrem Umhang an einem Geländer hängen bleibt, oder als Ginger Minj nach der Pause einen launigen Monolog über das Gesehene hält – „What is it about? It's about 30 minutes too long“ – und zwei Dragqueens aus dem Publikum zum Spontan-Wettkampf einlädt.
Andererseits: Die „Matrix“ ist ja bereits ein queerer Text, eine Allegorie des Geschlechterwechsels, eine Verwandlungsfantasie in Lack und Leder. Übrigens keine Interpretation, sondern die Aussage des verantwortlichen Regie-Geschwisterpaares Lana und Lilly Wachowski. Möglicherweise hat sich RuPaul also geirrt und Drag hat den Mainstream längst unterwandert.