Saša Stanišićs neustes Buch in unserem Bestseller-Check.
Saša Stanišić im Bestseller-CheckRealität ist gut, Phantasie besser
Bisweilen sind die Bestsellerlisten ja eine dringende Empfehlung, Bücher besser nicht zu kaufen. Aber im Moment gibt es dort tatsächlich einige literarische Lichtblicke, und am hellsten strahlt Saša Stanišićs neues Buch. Bedanken Sie sich bei mir später – wenn Sie vor Weihnachten in der Buchhandlung stehen und nicht wissen, was Sie verschenken sollen. Denn dieses Buch ist nicht nur schlau und originell, sondern hat auch noch einen dermaßen langen Titel, dass der Text hier dann auch schon gleich fast voll ist: „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ (Luchterhand, Platz 5).
Das könnte man jetzt natürlich gleich mal googeln mit dem Grab und der Witwe – ob es dieses Friedhofs-Tindern wirklich gibt. Aber was wäre man dann für ein Spielverderber! Und außerdem – das weiß ich, weil ich es gegoogelt habe – beziehen sich die ersten gefühlt drei Milliarden Treffer jetzt ja sowieso auf das Buch.
Natürlich habe ich bei der Gelegenheit auch gegoogelt, ob Heinrich Heine wirklich auf Helgoland war – man kann sich da eben nicht immer so sicher sein bei Saša Stanišic. Aber offenbar stimmt das sogar, es sei denn, er hat sich auch noch die Mühe gemacht und diverse Webseiten gefaked, von Heinrich-Heine-Tours bis Helgoland.de. Wäre ihm ohne weiteres zuzutrauen. Andererseits – das lehrt uns die Lektüre – ist es ja eigentlich ziemlich egal, was wirklich passiert ist und was nicht. Hauptsache, die Geschichte ist gut. Und darauf kann man sich bei diesem Autor verlassen.
Hauptsache die Geschichte ist gut
„Helgoland“ – das antwortet der sechzehnjährige Saša eigentlich nur aus Verlegenheit, als seine Freunde fragen, wohin er in den Sommerferien fährt. Stimmt aber gar nicht, er bleibt zu Hause. Doch warum erinnert sich dann die Wirtin im „Inselkrug“ an ihn – als er fast 30 Jahre später tatsächlich nach Helgoland reist?
Helgoland kann jeder – doch Saša Stanišic gelingt sogar das Kunststück, das niedersächsische Winsen an der Luhe auf die literarische Landkarte zu setzen. Da war noch nicht mal Heine, behaupte ich einfach mal. Dafür trifft sich hier der Erzähler in einer Episode jeden Samstag mit ein paar Kumpels zum Doppelkopf. Und einer davon ist Mo, der die wildesten Geschichten erzählt. Oder erlebt?
Wahrscheinlich hat am Ende alles mit dem „Anproberaum“ zu tun, den sich der sechzehnjährige Fatih auf den ersten Seiten ausdenkt. Ein Raum, in dem man zehn Minuten einer möglichen Zukunft an- beziehungsweise ausprobieren kann. Und wenn sie einem gefällt, kann man sie einloggen. Kostet hundertdreißigtausend Mark, beschließt Fatih damals, 1994. Und heute – der Euro, die Inflation! – dürfte das Ganze noch deutlich teurer sein.
Damit verglichen ist dieses wunderbare, verspielte, phantasievolle, lustige Buch doch ein Super-Schnäppchen. Und es ist genauso voll von möglichen Zukünften und Vergangenheiten. Nur erleben muss man sie dann noch selbst. Oder eben nicht.
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“, Saša Stanišić, Luchterhand, 256 Seiten, 24 Euro.