Saxofonist Marshall Allen spielt seit 1958 im Sun Ra Arkestra. Jetzt steht er im Guinness Buch der Rekorde: Als ältester Mensch, der ein Album veröffentlicht hat.
Saxofonist Marshall AllenWie ein Kölner einem 100-jährigen Musiker zum Solodebüt verhalf

Der 100-jährige Jazz-Saxofonist Marshall Allen im Studio in Philadelphia mit dem Kölner Musikveranstalter Jan Lankisch
Copyright: Ayana Wildgoose
Unsere Geschichte beginnt 1936 auf dem Planeten Saturn. Hier findet sich der schwarze Musikstudent Herman Blount in einer Vision wieder. Sein Körper ist durchsichtig. Wesen, denen kleine Antennen aus den Ohren und über den Augen wachsen, raten ihm, das College zu verlassen. Blount widmet sich völlig seiner Musik und seiner Privatmythologie. Er nennt sich Sun Ra, gründet das Arkestra, die afrofuturistische Jazz-Band, mit der er ab Mitte der 50er im kosmischen Swing das Sonnensystem erkundet, als könnte die afrikanische Diaspora statt in die amerikanische Sklaverei bis in die Tiefen des Alls führen.
Genau genommen beginnt unsere Geschichte aber erst als der Altsaxofonist und Ex-Soldat Marshall Allen Mitte der 50er Jahre Paris verlässt, wo er am Konservatorium studiert hatte (die G.I.-Bill ermöglichte Kriegsteilnehmern den Universitätszugang), und in Chicago auf Sun Ra trifft. Marshall Allen wird zum Top-Solisten des Arkestra, er liebt den eleganten Ton von Duke Ellingtons Saxofonisten Johnny Hodges, kann sein Instrument aber auch in wildem Gekreisch explodieren lassen. Und er ist der ultimative Team-Player, widmet sein gesamtes kreatives Leben dem Arkestra. „Sun Ra hat mir beigebracht, wie man den Geist in Musik übersetzt“, sagt Allen. „Der Geist macht keine Fehler.“
2019 tritt das Sun Ra Arkestra auf dem Kölner Week-End-Festival auf
Kurz nach Sun Ras Tod im Jahr 1993 übernimmt Allen die Leitung der Gruppe und er leitet sie noch heute, steht als 100-Jähriger Abend für Abend stundenlang auf der Bühne. 2019 bucht der Kölner Veranstalter Jan Lankisch das Arkestra für sein Week-End-Festival. Allen spielt einen elektronischen Blaswandler, eine Lockflöte für Außerirdische. Und Saxofonist Knoel Scott, seit 1979 Passagier auf der interstellaren Arche, intoniert mit sonorer Stimme das bekannte Motto Sun Ras: „Space is the place.“ Die Stadthalle Mülheim hebt ab.
An einem kalten Winterabend 2023 erinnert sich Lankisch an das Konzert, klickt sich auf der Musikdatenbank „discogs.com“ durch die Diskografie Sun Ras. „Dann habe ich nach Soloalben von Marshall Allen geschaut, auf der Suche nach einem Jazzalbum aus den 60er Jahren, das ich vielleicht noch nicht gehört hatte, aber ich habe nichts entdeckt.“ Das kann doch nicht sein, denkt sich der Musikverrückte, dass jemand, der so lange dabei ist, noch nie etwas Eigenes gemacht hat? Aber so ist es. Und damit beginnt die Geschichte nun wirklich. Am nächsten Morgen kontaktiert er Knoel Scott und erzählt ihn von seiner Schnapsidee: „Was hältst du davon, wenn Marshall der erste Hundertjährige ist, der sein Debütalbum herausbringt?“
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Der 100-jährige Jazz-Saxofonist Marshall Allen
Copyright: Ayana Wildgoose
All das berichtet Jan Lankisch im Planetarium des Nippeser Leonardo-da-Vinci-Gymnasiums, wohin er zur ersten Listening-Session von Marshall Allens ersten Soloalbum geladen hat. Es heißt „New Dawn“, vielleicht, weil es nie zu spät für einen neuen Morgen ist. In majestätischer Gelassenheit tanzt, „African Sunset“ – Allens erste Komposition auf „New Dawn“ – durch den kleinen Kuppelsaal, eine Ballade für Bariton-Saxofon, von Allen mit Raumschiff-Enterprise-artigen Einschüben aus ebenjenem elektronischen Blasinstrument punktiert, das er auch in Köln-Mülheim gespielt hatte. Oben funkelt der projizierte Winter-Sternenhimmel, wunderschön.
So gelassen, so gefühlvoll klang er im Arkestra-Kontext selten. Es gibt Blues-Gitarrenriffs, ein Big-Band-Stück, das aus Allens Jugend stammen könnte. Und den von Neneh Cherry gesungenen Titelsong. Deren Stiefvater Don Cherry war selbst einer der ganz Großen des Jazz. Höre in dich hinein, beschwört Neneh Cherry, wo Gott immer schon war: „Er wird dir geben, was du brauchst/ Aber mit seiner eigenen Geschwindigkeit.“
Marshall Allen wohnt in Philadelphia mit anderen Musikern in einer Altherren-WG
„Frag Ronny“, lautete Knoel Scotts knappe Antwort auf Lankischs Vorschlag. Ronald Boyd ist Allens Sohn, seit ein paar Jahren führt er die Geschäfte des Arkestra. Die Kölner Idee schlägt ein. Hört man „New Dawn“ fragt man sich, wie das nur sein kann, dass Allen niemals seine eigenen Kompositionen eingespielt hat? „Es fehlte der richtige Katalysator“, glaubt Lankisch: „Wenn du im Arkestra gespielt hast, hast du Sun-Ra-Stücke gespielt.“ Außerdem: „Es hat ihn nie jemand gefragt.“ Manchmal dauert es eben 100 Jahre, bis Gott einem gibt, was man braucht.
Vergeblich sucht Lankisch nach passenden Produzenten. Am Ende übernimmt er selbst, ohne je eine Platte produziert zu haben. Knoel Scott soll sich um die Sichtung der Komposition kümmern, niemand kennt Allens Werk so gut wie er. Seit vielen Jahrzehnten wohnen die beiden Musiker, zusammen mit zwei weiteren Arkestra-Mitgliedern, in einem Haus in Philadelphia: eine Altherren-WG. Die Immobilie hatte 1968 Allens Vater Sun Ra zum symbolischen Preis von einem Dollar überlassen. Im Arkestra, so Lankisch, ich habe man damals so gut wie nichts verdient und die Lebenshaltungskosten für so ein Kollektiv seien beträchtlich gewesen.
Am 24. Mai 2024 fliegt er nach Philadelphia. Das Arkestra feiert mit einer großen Show in den 100. Geburtstag hinein. Zwei Tage später hat Lankisch ein Studio gebucht. 10,15 Mitglieder des Arkestra, dazu ein Streichquartett, weil das Allens Herzenswunsch ist, mit Streichern zu arbeiten. Es gibt Noten, aber keine Demo-Aufnahmen. Lankisch hört die Stücke zum ersten Mal. Er will ein Lebenswerk dokumentieren, ein ganzes Jahrhundert. Stattdessen muss er, während teure Studiozeit verstreicht, mit Musikern über ihre Lunch-Wünsche diskutieren. Er ist überfordert. Neue Streichersessions müssen geplant werden, neue Arrangements. Es ist viel mehr Arbeit als gedacht.
Doch am Ende hat sie sich gelohnt. Seit ein paar Tagen steht Marshall Allen sogar gleich zweimal im Guinness Buch der Rekorde: Als Ältester Mensch, der ein Debütalbum herausgebracht hat und als Ältester Mensch, der ein Album mit neuem Material veröffentlicht hat. Aber wichtiger ist, dass der Mann, der in einem heroischen Akt Sun Ras extraterrestrische Musik am Leben hielt, am Ende seine eigene irdische Stimme gefunden hat.