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Interview

Tocotronic-Sänger
Was Dirk von Lowtzow glaubt, im Leben falsch gemacht zu haben

Lesezeit 9 Minuten
29.01.2025, Berlin: Dirk von Lowtzow, Mitglied der Band Tocotronic, steht in einem Studio in Kreuzberg. Das neue Album der Band «Golden Years» erscheint am 14. Februar.

Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow in einem Studio in Kreuzberg.

Am 14. Februar erscheint das neue Tocotronic-Album „Golden Years“. Sänger Dirk von Lowtzow über das Leben in der Rock'n'Roll-Mittelschicht.

Dirk von Lowtzow, vor 30 Jahren sangen Sie „Ich bin neu in der Hamburger Schule“. Jetzt setzt die Historisierung dieser Szene ein, mit TV-Dokus und Büchern. Wie genau guckt man da hin, wenn man Teil der Geschichte wird?

Dirk von Lowtzow: Ich kann nicht für die anderen beiden sprechen. Ich könnte mir vorstellen, dass die genauer hingucken. Ich habe diese Historisierungen zugegebenermaßen nur oberflächlich verfolgt. Das hat gar nichts mit der Qualität des Buches oder der TV-Doku zu tun. Mich beschäftigt die Vergangenheit nicht so, obwohl es natürlich schön ist, viele WeggefährtInnen von damals in Ton und Bild wiederzusehen. Es ist bestimmt auch für LeserInnen oder ZuschauerInnen von heute interessant und sicher eine gute Idee, das noch mal aufzuarbeiten.

Tocotronic hat jetzt mit „Golden Years“ das 14. Album in 30 Jahren aufgenommen. Wenn Ihr selbst auf Eure lange eigene Geschichte schaut, ist die eher ein Abgrund oder ein Steinbruch, in dem man sich bedienen kann?

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Wenn wir an einem Album arbeiten, treten wir in einen Dialog. Sowohl innerhalb eines Albums, wo die Lieder miteinander korrespondieren, als auch mit der Umwelt, mit den Hörenden, dem Publikum. Und auch mit unseren älteren Alben. Bei diesem Album haben war wir uns vieles von dem, was wir Ende der 1990er gemacht haben, noch einmal angehört. Die Alben klingen teilweise sehr gut und haben im Spielerischen so eine gewisse Nonchalance. Das haben wir bewusst versucht, in dieses Album so hineinzutransportieren. Und dabei gleichzeitig der Jetztzeit verhaftet zu bleiben. Diese Amalgamierung war uns wichtig. Also es ist eher der Steinbruch, in dem man selbst so eine kleine Archäologie betreiben kann.

In dem neuen Stück „Wie ich mir selbst entkam“ begegnen Sie einer anderen Version der eigenen Person. Haben Sie häufiger das Gefühl, einer schlechteren Version des eigenen Schicksals entkommen zu sein, oder das, ein mögliches besseres Leben nicht gelebt zu haben?

Eher letzteres. Ich bin jetzt Mitte 50 und stelle fest, dass mir in dem Leben, das ich bisher gelebt habe, manches entgangen ist, ob aus Faulheit oder Angst. Das ist sehr traurig, aber damit kann ich mich in Teilen identifizieren. Ich bin alles andere als unzufrieden, aber da hätte es schon noch Potenziale gegeben, die man irgendwie nicht wahrgenommen hat.

In künstlerischer oder in persönlicher Hinsicht?

Eher in persönlicher Hinsicht. Mir nahestehende Leuten waren mit 20 für zwei Jahre in New York oder haben ein halbes Jahr in Brasilien verbracht. Ich bin halt von Offenburg nach Hamburg gezogen und das war das Schicksalsjahr meines Lebens, in dem ich Arne und Jan kennengelernt habe. Das war wahnsinnig toll, weil sich dieser Zufall in so eine Art Schicksal umgeschrieben hat. Ab dann hatten wir diese Band und haben eigentlich nicht viel anderes gemacht.

Ich bin jetzt Mitte 50 und stelle fest, dass mir in dem Leben, das ich bisher gelebt habe, manches entgangen ist, ob aus Faulheit oder Angst.
Dirk von Lowtzow

Es gab doch etliche Nebenprojekte, musikalisch, aber auch Ausstellungen, Theaterstücke, Bücher ...

Ich weiß. Es klingt viel resignierter, als ich es meine. Ganz typisch für mich ist eine gewisse Verzagtheit, wie ich zugeben muss.

Wenn ich das richtig verstanden habe, würden Sie Tocotronic als Schicksalsgemeinschaft bezeichnen?

Heute ist so ein Weg durch Pop-Akademien oder Castingshows viel durchgeplanter, in unserem Fall war es kompletter Zufall. Ich bin zur Uni gekommen, habe dort Jan Müller rumstiefeln sehen und dachte mir: Das ist ja ein schräger Typ, mit dem muss ich mich anfreunden. Und der kannte Arne Zank schon von der Schule und da waren wir schon drei schräge Typen und haben gesagt: Dann lass uns doch eine Band gründen. Aber mit so einer Bandgründung ist das ein bisschen wie bei einer neuen Liebe, im Englischen sagt man ja auch „to fall in love“, also man fällt da richtig hinein. Und dadurch fixiert man diesen Zufall und modelt ihn zu so etwas wie Schicksal um.

Aber dass nach mehr als 30 Jahren noch funktioniert, ist vor allem eine große Gnade?

Ja, das finde ich auch. Deshalb spreche ich hier auch von Liebe. Wir sind da schon ineinander gefallen, das ist sehr besonders.

So könnte man auch den Titelsong „Golden Years“ verstehen, als eine Feier des Lebens in der Rock’n’Roll-Mittelschicht.

Das hat bis jetzt noch keiner so schön gesagt, weil genau das ist es: Wenn man von der Freilichtbühne Recklinghausen in der zweiten Klasse nach Hause fährt, mit einem Kaffee vom Bordbistro in der Hand, ist das eben nicht der Privatjet von Aerosmith. Und dann ereilt einem genau in diesem Moment so eine vorauseilende Wehmut und man sagt sich: Ja, das ist jetzt alles ein bisschen Rock’n’Roll-Mittelschicht, aber vielleicht wird's nie wieder so schön.

Tocotronic 2025

Tocotronic anno 2025: Arne Zank (v.l.), Dirk von Lowtzow, Jan Müller

Der Song schunkelt sich sehr schön in diesem Gefühl ein.

Ja, er hat diese Akkorde von einem Lied aus dem Great American Songbook, wie man sie auch bei countryifizierter Musik findet. Ich habe eine große Schwäche für diese Art von Alternative Country, für Bands wie Wilco. Das ist für deutsche Bands oft nicht so leicht zu erreichen. Aber wenn man das ein bisschen hinkriegt, finde ich das sehr beglückend. Der Song ist eigentlich ein Loop, der könnte ewig so weitergehen.

Es gibt die berühmte Songzeile: Mit dem Alter fängt man an, sich für Countrymusik zu interessieren.

Ja, von den Aeronauten. Eine lustige These, aber ich würde widersprechen, ich habe mich schon sehr früh für Country und amerikanische Folkmusik interessiert. In den 90er Jahren waren Jan Müller und ich auf Konzerten von Townes Van Zandt. Das hatte so eine existentialistische Tiefe, das hat uns wahnsinnig geprägt.

Townes Van Zandt war da schon eine Leiche auf Urlaub. Auch auf „Golden Years“ ist der Tod ist sehr präsent, gleich in den ersten beiden Songs ...

Also das erste Lied könnte ein Lied sein, dass man für jemanden singt, der gerade jemand verloren hat. Ein Lied, das Halt und Trost verspricht. Das ist vielleicht auch so ein American-Songbook-Motiv.

Die Amerikaner hätten in der Zeile „du kannst mir fast vertrauen“ aber nie das Wörtchen „fast“ verwendet.

Ich finde es wichtig, dass man in diesem Trost, den Musik durchaus in der Lage ist zu spenden, auch die innere Zerrissenheit und die Unsicherheit der Existenz mitbedenkt. Dass man das mit einpreist. Uns interessiert am Songwriting die Technik der minimalen Verrückung. Dass man zum Beispiel im Wort „fest“, das man in dieser Zeile erwarten würde, das „e“ zum „a“ dreht. Wir haben immer traditionelle Songs geschrieben, aber in diesen Songs solche kleinen Verrückungen oder Ironisierungen, Brechungen oder Weitungen vorgenommen. Das charakterisiert unsere Arbeitsweise ganz gut.

In diesem Trost, den Musik durchaus in der Lage ist zu spenden, muss man auch die innere Zerrissenheit und die Unsicherheit der Existenz mitbedenken.
Dirk von Lowtzow

„Bleib am Leben“ heißt das zweite Stück. Kann ich das auch als Selbstaufforderung an die Band verstehen?

Klar. Oder an die Menschheit als solche oder an die Linke, oder an den Menschenverstand.

Bleiben wir bei der Linken: Als ich „Denn sie wissen, was sie tun“ im Kontext des Albums gehört habe, war es mir zuerst gar nicht als politisches Lied aufgefallen, eher als Warnung vor Menschen, die völlig mit sich einverstanden sind. Aber hört man das Stück als Single, ist der Bezug sofort klar.

Genauso ist es auch gedacht. Es ist ein Lied über Leute, die mit sich total im Einklang sind und darin gleichzeitig total niederträchtig sind. Man merkt, dass diese gewisse Art der Niedertracht gerade eine starke Hegemonie in der Gesellschaft gewinnt. Und da wird es politisch. Menschen wie Trump oder Elon Musk oder die AfD benutzen diese Niedertracht, um sich eine Gefolgschaft zu schaffen, die sich vom Rest der Gesellschaft abgespaltet hat – und die durchaus gewaltbereit ist. Als Single haben wir es nicht umsonst mit dem Hashtag „No AfD“ versehen.

Verstehen sich Tocotronic als politische Band?

Wir schreiben Songs, die kleine musikalische Lebensdramen sind. Und in jedem Leben findet auch immer etwas Politisches statt. Mir würde es schwerfallen, das zu trennen. Ob man auch politisch aktivistisch sein soll, dass muss jeder Künstler und jede Künstlerin für sich selbst entscheiden. Oft liegt eine hohe Politizität in einer widerständigen Form. Als vor ein paar Jahren die amerikanische Lyrikerin Luise Glück den Nobelpreis gewonnen hat, gab es so ein gewisses Raunen, weil die sehr eigenwillige Gedichte schreibt, oft über Botanik. Aber ich finde ihre Entscheidung, diese Gedichte genau so, zu genau diesen Themen zu schreiben, auf einer ästhetischen Ebene superpolitisch. Als störrischen Akt. Jetzt sind die Zeiten allerdings derart, dass es nicht schaden kann, sich als KünstlerIn zu engagieren. Die Demokratie steht auf der Kippe.

Die widerständige Ästhetik von Tocotronic läge darin, auf eindeutige Fragen mit Ambivalenzen zu antworten.

Ja, sonst wird es schnell banal und auch ein bisschen selbstgerecht. Im Sinne von: Wir sind die Guten, ihr seid die Bösen. Von dieser Niedertracht, um die es in dem Lied „Denn sie wissen, was sie tun“ geht, ist man selbst nicht gefeit. Dieses Ressentiment und diese Bitterkeit, die man oft in sich spürt, können sich schnell zu so einer Niedertracht ausweiten.

Der Albumtitel „Golden Years“ changiert zwischen dem gleichnamigen Bowie-Song und der Altenheim-Assoziation. Er könnte auch ein sarkastischer Kommentar zur Zeit sein. Wie wählen Tocotronic ihre Titel aus? Gibt es eine Liste?

Hier war es relativ schnell klar. Wir mochten den Song so gerne und fanden ihn alle als Albumtitel super, inklusive der Leute, mit denen wir an so einem Album arbeiten, wie unser langjähriger Produzent Moses Schneider. Genau wegen dieses Vexierbildhaften, dieser Offenheit, die Sie angesprochen haben. David Bowie hat den Titel übrigens gesungen, als er noch ziemlich jung war. „Golden Years“ kann auch ein Hoffnungsschimmer in düsteren Zeiten sein. Und hat zugleich etwas Apokalyptisches, wenn ich an diese goldroten Feuer in L.A. denke.

Euer langjähriger Gitarrist Rick McPhail muss eine Auszeit nehmen, Tocotronic ist jetzt wieder das Trio der Anfangszeit. Hat das die Dynamik in der Band verändert?

Rick hat noch das komplette Album mit eingespielt und ganz wunderbar, wie ich finde. Dass wir uns jetzt in der Ursprungsbesetzung wiederfinden, ist gleichzeitig sehr schmerzhaft und sehr vertraut. W bauen unsere Zufallsbekanntschaft, unsere Schicksalsgemeinschaft aus den 90er Jahren weiter aus.

Wie guckt man als Schicksalsgemeinschaft nach vorne? Was machen Tocotronic in zehn Jahren?

Es geht so ein bisschen nach dem Rainald-Goetz-Motto „Don't Cry, Work“. Wir haben nie weit in die Zukunft geguckt. Was vielleicht paradoxerweise ein Grund dafür ist, dass wir so lange zusammengeblieben sind. Es ist eine Feier des Moments.


„Golden Years“ erscheint am 14. Februar. Am 12. April gastieren Tocotronic im E-Werk.