Als Chronist der Bundesrepublik hat er bewegend über die Nachkriegsjahre geschrieben. Uwe Timm über Pelze, das Handwerk und Geister in seinem Schlaf.
Schriftsteller Uwe Timm„Unsere Demokratie ist jetzt wieder so gefährdet“
Herr Timm, das Handwerk hat in den vergangenen Jahrzehnten sehr an Ansehen verloren. Sie sind ja beides, Geistesarbeiter und als ausgebildeter Kürschner auch Handwerker. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Das ist sehr bedauerlich. Dass die Handwerker im Ansehen so gesunken sind, merkt man auch daran, dass fast alle jungen Menschen heute das Abitur ablegen wollen und zur Uni streben.
Worauf ist das zurückzuführen?
Dafür gibt es sicherlich viele Gründe. Einer ist, dass das Studium den sozialen Aufstieg impliziert – in der Theorie zumindest. Aber wenn man genau hinguckt, brechen heute viele junge Menschen ihr Studium ab. Diese Studienabbrecher sind dann in nicht-akademischen Bereichen zu finden, sie übernehmen Organisationsaufgaben, arbeiten im Dienstleistungssektor oder eröffnen Tattooläden. Ich finde daher, es sollten wieder mehr Menschen Handwerker werden, weil sie gebraucht werden und auch, weil das Handwerk etwas ganz Tolles ist.
Was schätzen Sie so daran?
Uns hat beispielsweise ein sehr junger Tischler, der bereits mit 26 Jahren seinen Meister gemacht hat, ein Bett gebaut – und zwar in einer Ecke ohne geraden Winkeln. Dieses Bett hat er so genau gebaut, dass man eine Kugel darauflegen kann, ohne dass sie wegrollt. Zudem hat unser Tischler vorgeschlagen, die Kirschholzfront des Bettes in einem bestimmten Abstand zueinander mit schwarzen Holzstreifen zu strukturieren. Das hat den erstaunlichen Effekt, man sieht nicht bloß eine Holzfläche vor sich, sondern plötzlich tut sich eine Perspektive auf. Da fließt das Handwerk dann ins Künstlerische. Ich finde es sehr traurig, dass eine solche Handwerkskunst immer mehr verloren geht.
Sie haben im Alter von 14 Jahren eine Kürschnerlehre begonnen. Ihr Vater war ebenfalls Kürschner. War es Ihr Wunsch, diese Lehre zu ergreifen, oder hat Ihr Vater das entschieden?
Das war mein Vater. Mein Vater war ein begabter Mann, aber er hatte nicht studiert, hatte mehrere Berufe ausgeübt. Als er 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, fand er in den Trümmern von Hamburg eine Pelznähmaschine. Die hat er geputzt, geölt, entrostet und schließlich – obwohl er das nie gelernt hat – einen Mantel gefertigt.
Einfach so? Das ist ja – wie in Ihrem neuen Buch „Alle meine Geister“, das von Ihrer Kürschnerlehre handelt, nachzuvollziehen ist –, eine sehr komplizierte und anspruchsvolle Arbeit.
Das war die Stunde Null. Mein Vater hatte ein Buch über das Kürschnerhandwerk gelesen und danach einen ziemlich wertvollen Mantel für einen britischen Besatzungsoffizier hergestellt. Das war ein Fehmantel, also aus den Fellen sibirischer Eichhörnchen gefertigt, sehr schön gemacht. Anschließend hat er ein Kürschnergeschäft eröffnet, das dann mit der Zeit größer wurde. In seinem Werdegang spiegelte sich somit die Entwicklung des Wirtschaftswunders wider – das Geschäft prosperierte, mein Vater beschäftigte schließlich zwölf Angestellte und hatte sogar einen Chauffeur.
Aber die gute Entwicklung hatte dann schon bald ein Ende.
Bereits Ende der Fünfzigerjahre kamen Billigpelzmäntel aus Griechenland auf den Markt. Diese waren schlecht verarbeitet, eben kein gutes Handwerk, sondern Massenware für die Kaufhäuser. In der Folge ging das Geschäft zurück, später protestierten dann auch – zu Recht – Tierschützer gegen Pelze. Als das Geschäft in den Fünfzigerjahren noch gut lief, wollte mein Vater, dass ich es übernehme.
Aber Sie wollten nicht?
Ich war zunächst als Schüler sehr schlecht in Orthografie, ich war wohl ein Legastheniker. Auch deshalb hat mein Vater dann letztlich entschieden, dass ich auf der Volksschule bleiben und nicht das Gymnasium besuchen soll – was ich als sehr schlimm empfand. Denn meine Freunde besuchten das Gymnasium, auch mein bester Freund. Es war schon traurig, als sich unsere Wege trennten. Das hat dann dazu geführt, dass ich Kürschner wurde und damit einen Beruf ergriff, den ich eigentlich nicht wollte. Als Gegenwehr zu dieser ungeliebten Tätigkeit habe ich gelesen, gelesen, gelesen. Das war mein Reich der Freiheit.
Ist die Welt der Literatur für Sie auch ein Fluchtort, eine Rückzugsmöglichkeit?
Ich möchte es so sagen: Ich bin besonders bei mir selbst, wenn ich lese. Wirklich man selbst ist man im Schlaf, beim Träumen, in der Musik und eben beim Lesen. In Büchern findet man sich automatisch in einer Gegenwelt wieder, Literatur ist immer eine Gegenwelt zur Wirklichkeit, sie ist per se utopisch. Das empfindet jeder Leser so, aber es empfindet jeder Leser auf seine Weise. Sie werden ein Buch anders lesen, es wird sich Ihnen anders öffnen, als es sich mir oder einem anderen Menschen öffnet. Jeder hat seine Biografie, seine Wünsche und seine Ängste.
Sie haben nicht bei Ihrem Vater gelernt, sondern beim Kürschnermeister Erich Levermann. Was Sie über Ihre Lehrzeit schreiben, erschien mir beim Lesen wie ein Mikrokosmos, ein Spiegel der damaligen Nachkriegsgesellschaft. Manche wollten über den erst kurze Zeit zurückliegenden Krieg nicht sprechen, andere hingegen schon. Die einen blicken zurück, die anderen nach vorne. Würden Sie dieser Lesart zustimmen?
Es ist schön, dass Sie das so gelesen haben. Tatsächlich war die Werkstatt im Kleinen wie ein Fokus der gesamten Gesellschaft. Dort arbeiteten natürlich auch Männer, die aus dem Krieg kamen – ich schreibe ja über einen Marineleutnant und einen Korvettenkapitän. Auf einmal waren diese hochstehenden Offiziere ganz unten, sie arbeiteten als Lehrlinge. Vieles in der Werkstatt war noch sehr ständisch geprägt.
Wie äußerte sich das?
Die Lehrlinge wurden geduzt von den Gesellen, die Gesellen von den Lehrlingen hingegen gesiezt, zu dem Meister sagten wir sowieso „Sie“. Aber auch die ganze Erotik war kompliziert.
Warum?
Es war damals ziemlich kompliziert, ein Mädchen kennenzulernen. Auch da war diese Du-Sie-Schranke hinderlich. Diese haben wir erst 1968 niedergerissen, als dann selbst Professoren ihren Studenten anboten: Sag doch „Du“ zu mir!
Wie ist dieses Buch über Ihre Kürschnerlehre, über die vielen schönen Begriffe des Handwerks und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden?
Das Buch ist ein Kind der Corona-Zeit. Ich hatte an einem ganz anderen Projekt gearbeitet, wollte reisen, Interviews führen. Das war von heute auf morgen nicht mehr möglich. Eine gute Gelegenheit, über diese vergangene Zeit meines Lebens nachzudenken. Wer kann über all diese Personen schreiben? Kaum einer. Wer kann über diese Zeit schreiben? Wenige. Wer kann über meine Entwicklung schreiben? Nur ich. Die Figuren von damals kamen zu mir, sie meldeten sich in meinen Gedanken und Träumen. Ich habe in diesen zwei Jahren intensiv geträumt, weil ich mich ständig mit jener Zeit beschäftigt habe. Die Arbeitskollegen, Bekannten und Freunde von damals saßen an meiner Kehle und wollten, dass ich über sie schreibe.
Aber über Ihre Kürschnerarbeit haben Sie – wenn auch kürzer – ja schon in anderen Büchern geschrieben, etwa in der „Entdeckung der Currywurst“ oder in „Der Freund und der Fremde“. Warum haben Sie sich zu einem eigenen Werk entschieden?
Außer dem eben Gesagten gab es noch etwas anderes für mich: Die Zeit, die ich beschreibe, war enorm wichtig für mich, weil sie mich über die Literatur prägte und bildete – und damit auch mein Schreiben entscheidend beeinflusst hatte. Lesen und schreiben gehören nun einmal zusammen. Dieser Lese-Erinnerung bin ich nachgegangen und habe mich gefragt, welche Bücher haben dich damals eigentlich so richtig berührt, so richtig getroffen? Das war unter anderem „Der Idiot“ von Dostojewski, den mir ein alter Werkmeister, ein Sozialist, empfohlen hatte. Und plötzlich kamen „alle meine Geister“ – die Menschen von damals, meine Lektüren, meine Erlebnisse – in einem Text zusammen.
Sie kommen in Ihrem literarischen Werk immer wieder auf die Kriegszeit und vor allem die Nachkriegszeit zurück. Warum lässt Sie diese Zeit nicht los?
Diese Zeit war wirklich ein Identitätsbruch in der deutschen Mentalität. Viele Deutsche dachten und verhielten sich auch nach dem Krieg noch autoritär, militärisch, rassistisch, sie waren immer noch Nazis. Dadurch, dass es sich im Mai 1945 um eine wirkliche Kapitulation, eine wirkliche Niederlage des Deutschen Reichs handelte, mussten sich diese Leute von heute auf morgen umstellen. Einige haben diesen Bruch mit den Nationalsozialisten bewusst, kritisch, auch selbstkritisch vollzogen, andere hingegen sind Nazis geblieben. Mit diesen und jenen Menschen lebte ich damals zusammen. In dieser Zeit zeigte sich auch die enorme Leistung in dem Aufbau unserer Demokratie, in der wir Jahrzehnte befriedet leben konnten und die jetzt wieder so gefährdet ist. Deshalb ist dieser Hintergrund der Nachkriegszeit noch immer sehr wichtig.
Sie haben die Proteste von Tierschützern gegen das Berufsfeld des Kürschners bereits angesprochen. Verteidigen Sie Ihren Lehrberuf, oder können Sie die Tierschützer verstehen, die die Fertigung von Pelzen kritisieren?
Der Beruf des Kürschners ist zu Recht in Misskredit gekommen, als die Tiere nur allein dazu aufgezogen wurden, um ihnen das teure Fell abzuziehen. Früher wurde ein freilaufender Fuchs geschossen. Dieses Tier hatte seiner Art entsprechend gelebt und hatte die Chance, seinem Jäger zu entkommen. Aber die extra für die Pelzproduktion gezüchteten Tiere sind von vornherein Todeskandidaten. Sie werden in kleinsten Käfigen gehalten, und wenn sie dann groß genug sind, wird ihnen das Fell abgezogen. Damit hatte die Kürschnerei ihre Würde verloren.
Sie schreiben in Ihrem Buch über die Tierhäute, mit denen Sie arbeiteten, den sehr schönen Satz: „Die räumliche Form des Lebens war in eine Fläche verwandelt worden, die nur noch von fern an das Tier erinnerte.“ Waren die Felle für Sie also in Ihrer Lehrzeit etwas vom Leben der Tiere Entkoppeltes?
Als Kind – ich war ja ein Kind mit 14, 15 Jahren – hatte ich solche Gedanken nicht. Aber es war ein Geheimnis der Kürschnerarbeit, dass man das Leben bei der Verarbeitung mitdachte und verantwortlich und nicht schludrig mit den Fellen umging. Mich hatte das ein sehr nachdenklicher Geselle gelehrt.
Können Sie also Proteste gegen Pelze verstehen?
Absolut, ja!
Das Lesen, das Schreiben, auch der Jazz, die in Ihrem Buch und in Ihrem Leben eine große Rolle spielen, haben im Gegensatz zu früher heute an Bedeutung verloren. Spüren Sie da eine Lücke?
Natürlich hat sich da viel verändert. Aber ich bin mir sicher, es wird weiterhin Menschen geben, die lesen, die ihre Lektüren auch weitergeben. Ich habe für „Alle meine Geister“ diese Bücher, auch Dostojewskis „Idiot“, noch einmal wiedergelesen, und da war ein Staunen und eine große Bewunderung. Mit einem größeren Hintergrundwissen ergaben sich zudem andere Bezüge, die ich damals nicht erkennen konnte. Berührt haben mich aber auch die Spuren von Tropfen in dem Buch: eine sinnliche Erinnerung an einen sommerlichen Lesetag an der Ostsee.
Zuerst fällt einem immer die Currywurst ein. Genauer gesagt, die „Entdeckung der Currywurst“. So heißt Uwe Timms Novelle aus dem Jahr 1993, in der sich der Erzähler auf die Suche nach der ehemaligen Imbissbudenverkäuferin Lena Brücker macht. Diese hatte in den letzten Kriegstagen den jungen Soldaten Hermann Bremer kennengelernt und ihn nach einer gemeinsamen Nacht gebeten zu bleiben, wodurch dieser fahnenflüchtig wird. Aus Angst, den jüngeren Mann zu verlieren, verschweigt sie ihm Tag für Tag das Ende des Krieges.
Das Werk Uwe Timms ist vielfältig und weitläufig. Sein Debüt schrieb der 1940 in Hamburg geborene und heute in München lebende Vater von drei Kindern 1974 mit dem Roman „Heißer Sommer“ über die westdeutsche Studentenbewegung. Dort thematisiert er auch den Mord an Benno Ohnesorg, mit dem Timm befreundet war. Die gemeinsame Geschichte der beiden ist in Timms Erinnerungsbuch „Der Freund und der Fremde“ nachzulesen. Der Autor hat neben vielen weiteren Romanen wie „Rot“ auch Kinderbücher wie das verfilmte „Rennschwein Rudi Rüssel“ geschrieben.
In seiner neuen autobiografischen Erzählung „Alle meine Geister“ (Kiepenheuer & Witsch, 288 Seiten, 25 Euro) nimmt Timm seine Leser in die Nachkriegszeit und damit in seine Kindheit und Jugend mit. In dem Buch geht es vor allem um die Zeit seiner Kürschnerlehre und später um die aufreibende Übernahme des Geschäfts seines Vaters. Gleichsam beschreibt Timm seinen Weg in die Literatur.