Sehenswerte Doku über Kapitol-SturmEin amerikanisches Trauma
Washington/Köln – Es ist ein Wunder, dass es nicht mehr Tote gab. Dieser Gedanke geht einem nahezu ständig durch den Kopf, wenn man den Dokumentarfilm "Sturm auf das Kapitol - Angriff auf die US-Demokratie" sieht, den die ARD am 6. Januar, dem Jahrestag des Ereignisses, um 22.15 Uhr zeigt.
Der Autor und Regisseur Jamie Roberts zeichnet in dem 90-minütigen Film chronologisch die Ereignisse jenes Tages nach. Der Film entstand in Zusammenarbeit von HBO, BBC und SWR, Roberts stützt sich dabei auf umfangreiches, zum Teil bislang unveröffentlichtes Material: Video- und Handyaufnahmen sowie Livestreams der Aufständischen, Posts in den Sozialen Medien, Filmmaterial der Überwachungskameras, Body-Cams der Polizei und Audioaufnahmen des Militärs.
Die Mär vom angeblichen Wahlbetrug
So ist man mittendrin, wenn Mitglieder der rechtsradikalen Organisation „Proud Boys“, QAnon-Verschwörer, rechte Influencer und andere Trump-Anhänger es als ihre patriotische Pflicht ansehen, das Symbol der amerikanischen Demokratie zu stürmen, weil ihr Präsident angeblich um den Wahlsieg betrogen wurde.
Der Verlierer der Wahl selbst hatte dieses Märchen in die Welt gesetzt und die Menge bei seiner Rede an jenem Januartag vor einem Jahr angestachelt, zum Kapitol zu ziehen.
Man hört Trumps Worte, man sieht die Gestalten mit Skimasken, US-Flaggen und heiligem Ernst in den Augen, die davon beseelt sind, das Richtige zu tun, als sie sich gewaltsam Eintritt ins Kapitol verschaffen. Sie wollen sich "ihr Haus" zurückholen, skandiere sie immer wieder.
Keine Einsicht, keine Reue
Roberts hat Interviews mit vielen Menschen geführt, die an diesem Tag in die Ereignisse involviert waren. Er spricht mit Anhängern der "Proud Boys", denen ihr Stolz über das Geschehen auch ein Jahr später noch anzusehen ist. Einem Verschwörungsmythiker treibt das Märchen der zu Tausenden versklavten Kinder, das QAnon verbreitet, die Tränen in die Augen. Es macht Angst zu sehen, wie unbeirrt diese Menschen in ihrem Weltbild sind. Reue oder Einsicht gibt es nicht.
Roberts lässt aber auch Polizisten zu Wort kommen, die an jenem Tag ihr Leben riskierten, um das Kapitol und die Abgeordneten zu schützen. Sie sprechen über ihre Angst, über ihre Traumata, über das Gefühl, von diesem Mob gleich überrannt und gelyncht zu werden. Und wenn man sieht, wie aufgeheizt die Menge war, wie groß die Gewaltbereitschaft, dann wird eindrücklich klar, wie berechtigt diese Todesangst war.
Eine Mitarbeiterin von Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses, schildert, wie sich mit Kollegen in einem Raum im Dunkeln verschanzte und befürchtete, gefunden und misshandelt zu werden. Abgeordnete kommen zu Wort, die im Sitzungssaal ausharren mussten, ohne zu wissen, wie sich die Lage nur wenige Meter entfernt entwickelte.
Nur knapp überlebt
Der Washingtoner Polizist Michael Fanone, ein kantiger Typ mit zahlreichen Tattoos, wurde von der Menge, die versuchte, einen Tunnel ins Gebäude zu stürmen, nach draußen gezogen und war sicher, nun sterben zu müssen. Doch irgendwann ließen sie von ihm ab, er erlitt einen leichten Herzinfarkt. Viel schlimmer seien die seelischen Narben.
Roberts verzichtet auf einen Kommentar, aber sein Film ist dennoch ein klares Statement, auch weil er am Ende denen eine Stimme gibt, die an diesem Tag das Liebste verloren. Eine Frau, deren Partner Polizist war und an den Folgen seiner Verletzungen starb. Und eine Witwe, deren Mann ebenfalls an jenem Tag im Einsatz war und sich kurze Zeit später das Leben mit seiner Dienstwaffe nahm. Es sollte nicht der letzte Suizid eines Polizisten bleiben.
Der Film zeigt eindrucksvoll, wie die live gestreamten Bilder aus der Menge in den sozialen Netzwerken die Stimmung noch zusätzlich anheizten und Trump genau die Bilder lieferten, die er wollte.
Seine Ansprache, er danke den Demonstranten, aber nun sollten sie friedlich nach Hause gehen, wirkte schon damals wie Hohn. Hat man 90 Minuten lang diese Bilder gesehen, sind sie kaum auszuhalten.