„Adolescence“ ist mehr als ein Serien-Hit, sondern löst selbst politische Debatten im britischen Parlament aus. Auch toxische Männlichkeit ist Thema.
Netflix-Hit„Irgendwas ist schiefgelaufen“ – Wie ein Kind zum Mörder wird

Owen Cooper spielt Jamie Miller in der britischen Netflix-Serie „Adolescence“.
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„Ich hoffe einfach, dass es Debatten auslöst und Gespräche zwischen Eltern und Kindern“, sagte Schauspieler und Drehbuchautor Stephen Graham im Voraus über die Serie, die jetzt die Netflix-Charts anführt: „Adolescence“. Während andere, mittelklassige Produktionen des amerikanischen Medienunternehmens zurecht in der eigenen Contentflut versinken, sollte Graham mit seinem Wunsch recht behalten. Das kann man dem Engländer bereits zwei Wochen nach Start (13. März) der Reihe attestieren.
Die vierteilige Miniserie über einen 13-jährigen Teenager, der zum Mörder wird, verzeichnete laut dem Streamingdienst innerhalb der ersten zehn Tage nicht nur mehr als 66 Millionen Abrufe. Sie entwickelte sich in kurzer Zeit auch zum globalen Gesprächsthema, wird in sozialen Medien genauso wie in namhaften Zeitungen diskutiert. Selbst im britischen Parlament wurde „Adolescence“ und das, was dahinter steht, zum Thema. „Das ist abscheulich, und wir müssen dagegen vorgehen“, mahnte Premierminister Keir Starmer. Doch wogegen?

Stephen Graham (rechts) schrieb das Drehbuch zur Serie „Adolescence“ und spielt Jamies Vater
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Heruntergebrochen dreht sich „Adolescence“ um Radikalisierung in den sozialen Medien, die genau das eben oft nicht sind, um Mobbing, Frauenhass und toxische Männlichkeit und darum, wie all das in Gewalt enden kann – oder sogar in Mord.
Wenige Stunden nach einem solchen Mord – das Opfer ist eine Schülerin, getötet mit sieben Messerstichen auf einem Parkplatz, irgendwo in England – beginnt die Erzählung. Das Haus des Verdächtigen wird in den frühen Morgenstunden von der Polizei gestürmt. Er nässt sich ein. Jamie (Owen Cooper) wirkt schüchtern-verschlafen und ist eigentlich noch ein Kind. Wer hofft, dass dieser unschuldig wirkende Junge tatsächlich unschuldig ist, wird ebenso enttäuscht, wie diejenigen, die mit der Erwartung an einen verzwickten Kriminalfall vor dem Fernseher sitzen.
Die Tat steht nicht im Mittelpunkt, es geht um das „Warum?“
Denn Jamie war es, das ist schon am Ende von Folge eins klar. Das Publikum sieht nur wenige Szenen des nüchternen, etwas verpixelten Videos einer Überwachungskamera. Nicht eine Sekunde zu viel des Gewaltakts wird gezeigt. Denn die Tat als solche steht nicht im Mittelpunkt.
Eher geht es um die Suche nach Antworten: Warum wird ein Junge zum Mörder? Warum hat er ein Mädchen getötet? Einfach machen sich Stephen Graham und Co-Autor Jack Thorne die Begründung nicht. Klischees werden hier keine erfüllt, es gibt weder eine alkoholsüchtige Mutter, noch einen Schlägervater oder ein Kindheitstrauma, das die Tat bedingt. Das Familiengefüge von Jamie scheint solide. „Ich bin eine gute Mom. Du bist ein toller Dad, aber irgendwas ist schiefgelaufen“, sagt seine Mutter unter Tränen.
Du verstehst nicht, was da läuft, was da abgeht. Insta
Der Fall ist komplex. Die einzelnen Episoden geben Einblicke in Jamies Lebenswelten. Das wirkt auch deshalb so real, weil die vier einstündigen Folgen ohne einen einzigen Schnitt und ohne actionreiche Spezialeffekte auskommen, man fühlt sich fast wie im Theater.
Am dritten Tag nach der Tat etwa begleitet das Publikum das Ermittlerteam um Kommissar Bascomb (Ashley Walters) in die Schule von Täter und Opfer. Doch sie tappen im Dunkeln. „Echt peinlich“, sagt Bascombs Sohn, ein älterer Schulkamerad von Jamie. Zwischen überforderten und resignierten Lehrerinnen und Lehrern, chaotischem Unterricht und pubertierenden Kindern ist er es, der dem Vater schließlich den Tipp gibt: „Insta“, sagt er. „Du verstehst nicht, was da läuft, was da abgeht.“
Über „Incel“, „Manosphere“ und die toxische Männlichkeit in der digitalen Welt
Ein schockierender Einblick in Jamies Innenleben folgt im dritten Teil von „Adoleszence“. Es ist eine 52-minütige, kammerspielartige Szene: nur Jamie und eine Gutachterin, die versucht, die Gedanken und Gefühle dieses Teenagers zu verstehen. Er denkt, er sei hässlich und unsportlich – also unmännlich? –, wurde online gehänselt und mit dem Wort „Incel“ beleidigt.
Incel ist die Selbstbeschreibung einer bestimmten Gruppe heterosexueller Männer. Das Wort ist eine Neuschöpfung aus Abkürzungen für die englischen Begriffe „involuntary“ und „celibate men“. Incel steht also für Männer, die „unfreiwillig“ im Zölibat leben, also keinen Sex haben. Schuld sind daran nach ihrer Meinung Frauen, deren überzogene Erwartungen sie nicht erfüllen können. Im Internet teilen sie ihren Hass und feuern sich darin gegenseitig an.
Das Opfer bezeichnet Jamie auf der verzweifelten Suche nach Verständnis für sein Handeln als „mobbende Bitch“, ihre nackten Brüste, von denen Fotos im Internet kursierten, als „Minititten“. Aber die störten ihn nicht, sagt er. „Ich hätte sie anfassen können, ich hatte Lust dazu, aber ich hab's gelassen.“ Stattdessen tötete er.
Jamies diffuse Offenbarung zeigt ein gefährliches männliches Selbstverständnis, das immer mehr Aufwind erhält durch frauenfeindliche Influencer wie Andrew Tate und eine Sogwirkung, die die „Manosphere“ auf Millionen junge Männer hat.
Laut Studie: 52 Prozent der Befragten der GenZ sprechen sich für Mindestalter bei Social-Media-Nutzung aus
Für jeden naiven Neuntklässler mit Social-Media-Account zugänglich predigen Muskelprotze und Business-Coaches dort misogyne Glaubenssätze. Frauen seien dumm, Eigentum ihrer Männer und eine Bedrohung für das traditionelle Rollenverständnis der Geschlechter. Die Leipziger Autoritarismus Studie von 2024 hat ergeben, dass bis zu einem Viertel der Deutschen solche antifeministischen und sexistischen Einstellungen teilen.
Auf Instagram, Tiktok und Youtube werden sie verbreitet. Im Schnitt dauere es 23 Minuten, bis männliche User auf derartige extremistische Videos stoßen – und zwar unabhängig davon, ob sie gezielt danach suchen. Zu diesem Ergebnis kamen irische Forscher im vergangenen Jahr. In seinem Kinderzimmer, vor Handy- und Computerbildschirm, scheint auch Jamie solchen Botschaften verfallen zu sein. Genauso wie unzählige Heranwachsende in der echten Welt.
Die Gefahren, die davon ausgehen, sieht die Generation Z sogar selbst. Laut einer aktuellen Studie des Instituts für Generationenforschung fordern 52 Prozent der befragten Jugendlichen ein Mindestalter von 16 Jahren für soziale Medien. In Australien ist genau dies seit kurzem gesetzlich festgeschrieben. Bis solche Regeln konsequent durchgesetzt werden, sind Kinder und Jugendliche aber weiterhin solch gefährlichen Botschaft ausgeliefert. Stephen Graham sagt, keine Familie könne sich sicher fühlen: „Das könnten meine Kinder sein.“ Wer ist in der Lage, sie zu kontrollieren? Eltern, Schule, Politik, Gesellschaft?
Bei der Suche nach Antworten auf diese wichtigen Fragen bleibt in „Adolescence“ aber eine große Leerstelle: Die Perspektive des ermordeten Mädchens und ihrer Familie und generell der Frauen, die Opfer von Femiziden werden. Die Konzentration mag beabsichtigt sein, problematisch ist sie dennoch. Und das war den Machern wohl auch bewusst. „Im Scheinwerferlicht steht immer der Täter“, heißt es in einem Dialog in der ersten Folge. Jamie bleibe in Erinnerung, das Opfer hingegen werde man vergessen. Sie hieß Katie.