Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

Skandalstück in KölnWo nackte Frauen Hubschrauber begatten

Lesezeit 5 Minuten
Fünf Frauen kämpfen als Matrosinnen verkleidet. Untenrum sind sie nackt.

Szene aus Florentina Holzingers „Ophelia's Got Talent“

Florentina Holzingers drastische Wasserrevue „Ophelia's Got Talent“ gastiert für drei Abende am Schauspiel Köln. Unsere Kritik.

Zuerst einmal eine Triggerwarnung: „Ophelia's Got Talent“ beinhaltet laut Programmzettel „selbstverletzende Handlungen, Blut, Nadeln, Stroboskop-Licht und die explizite Darstellung oder Beschreibung körperlicher oder sexualisierter Gewalt.“ Außerdem sind die Performerinnen in Florentina Holzingers Wasserrevue nackt. Die ganze Zeit, mindestens untenrum.

Und gleich noch eine zweite Warnung, für jene Theatergänger, die solche Hinweise mit freudiger Erwartung betrachten, wie einst jugendliche Rap-Hörer den „Explicit Content“-Sticker auf der CD: Nachdem „Ophelia's Got Talent“ im September 2022 die Spielzeit an der Berliner Volksbühne eröffnet hatte – René Pollesch lebte noch – avancierte der Abend zum Publikums- und Kritiker-Darling, proppenvolle Vorstellungen, Inszenierung des Jahres bei „Theater heute“, „Faust“-Preis als bestes Tanzstück, Berliner Theatertreffen. Das Magazin „Monopol“ kürt Holzinger zur einflussreichsten Künstlerin, ihre Darstellerin Saioa Alvarez Ruiz erhält den „Nestroy“-Preis als beste Schauspielerin.

In Stuttgart reagierten Opernbesucher mit Ohnmachtsanfällen

Und nachdem Opernbesucher auf Holzingers Stuttgarter „Sancta“-Aufführung mit Ohnmachts- und Übelkeitsanfällen reagierten (woraufhin alle Folgetermine ausverkauft wurden), kennen auch „Vermischtes“-Leser die österreichische Choreografin. Weshalb das triggersatte Skandalon zu seinem dreitägigen Gastspiel im Rahmen von Tanz Köln jetzt als vielfach ausgezeichnetes Stück Konsenskultur anreist.

Man sitzt also nicht nur mit einer gewissen Erwartungshaltung im Depot 1, man glaubt genau zu wissen, was einen erwartet.   Doch die Befürchtung erweist sich als unbegründet, die zweieinhalb Stunden sind ein Trip, befreiend, beglückend, erschütternd, verstörend.

Verfolgerlichter suchen die Zuschauertribüne ab, auf zwei Bildschirmen sieht man Annina Machaz im Anflug auf das Carlswerk, sie hat sich als weibliche Variante von Captain Jack Sparrow kostümiert (stellt sich aber als Captain Hook vor) – Dreispitz, verfaulte Zähne, Buddel voll Rum – die Hose hat sie allerdings vergessen. Schwankend und mit viel „Harharhar“ begrüßt sie zur feuchtfröhlichen Talentprobe.

Wenn alle schon nackt sind, wartet keiner darauf, dass sich jemand auszieht.
Florentina Holzinger

Ophelia, die berühmteste Wasserleiche der Theatergeschichte gibt das Thema vor, die Verstoßene soll aus ihrem Opferstatus erlöst werden. Die Form orientiert sich am weltweit erfolgreichen „Got Talent“-Franchise (in Deutschland läuft die Castingshow unter dem Namen „Das Supertalent“) – nur dass die dreiköpfige Jury und ihre nacheinander auftretenden Kandidaten rein weiblich besetzt und kleidungslos sind.

„Wenn alle schon nackt sind, wartet keiner darauf, dass sich jemand auszieht“, begründet Florentina Holzinger ihren Bühnennudismus. Tatsächlich fühlt sich der Zuschauer nach einer Weile, als hätte er sich in Alltagsklamotten in eine Saunalandschaft verirrt. Als hätten die ansteigenden Meere das Patriarchat weggespült und die geballte Vulva-Power auf der Spielfläche wäre der Normalzustand, eine neue Kultur freier Frauenkörper.

Ophelia's Got Talent
Florentina Holzinger
Konzept & Regie: Florentina Holzinger
 
Konzept & Regie: Florentina Holzinger
Sounddesign: Stefan Schneider
Musik: Paige A. Flash, Urska Preis & Stefan Schneider
Bühne: Nikola Knezevic
Videodesign: Melody Alia, Jens Crull & Max Heesen
Live­Kamera: Melody Alia
Live­Schnitt: Max Heesen
Dramaturgie: Renee Copraij, Sara Ostertag, Fernando Belfiore & Michele Rizzo
Dramaturgie Volksbühne: Johanna Kobusch
Tänzer*innen: Melody Alia, Saioa Alvarez Ruiz, Inga Busch, Renee Copraij, Sophie Duncan, Fibi Eyewalker, Paige A. Flash, Florentina Holzinger, Annina Machaz, Xana Novais, Netti Nüganen, Urska Preis, Zora Schemm (Rambazamba Theater), Adele Brinkmeier, Stella Adriana Bergmann, Greta Grip, Golda Kaden, Fiene Lydia Kaever, Izzy Kleiner, Elin Nordin, Lea Schünemann, Rosa Shaw, Nike Strunk, Lenya Tewes, Thea Wagenknecht, Laila Yoalli Waschke & ZoË Willens
 
Foto: Marianna Wytyczak

Szene aus „Ophelia's Got Talent“

Die ins Drastische gekippte Fernsehparodie ist klassisches Zirkus-Varieté. Sophie Duncan erzählt als Luftakrobatin von einem Tauchunfall ihres Onkels, Zora Schemm vom inklusiven Ramba-Zamba-Ensemble dreht sich selbstversunken „Ich war noch niemals in New York“ singend um einen Regenschirm, die großzügig tätowierte Schwertschluckerin Fibi Eyewalker gibt mithilfe einer Magensonde voyeuristische Einblicke in ihr Innerstes.

Aber dann geht Netti Nüganens Entfesselungsnummer in einem Wassertank beinahe schief, das Halseisen will sich nicht lösen, Holzinger klettert auf den Tank, versucht die vermeintlich Ertrinkende nach oben zu ziehen, Bühnenarbeiter eilen herbei. Der Unfall ist so überzeugend realistisch inszeniert, dass das Publikum hörbar nervös wird – aber er dient einzig dazu, das Stück aus seinem konzeptuellen Korsett zu befreien. Ab jetzt ist der gesamte Abend eine einzige große Entfesselung. Ein Schwimmbecken kommt ins Spiel, die Kraulenden erscheinen in der Video-Draufsicht wie sportliche Nereiden aus einem Esther-Williams-Film. Bald tauchen sie in ein riesiges Aquarium dahinter ab, die ozeanischen Gefühle vertiefen sich.

Die Frauen besetzen männliche Gebiete

Zugleich betreiben die talentierten Ophelias Landnahme männlich besetzter Gebiete, werkeln im Blaumann, steppen als Broadway-Matrosen oder schmeißen als Folkloretruppe die Beine hoch, schmettern „Drunken Sailor“ und „Wellerman“ als trunkener Shanty-Chor, enden in einer Bud-Spencer-mäßigen Massenschlägerei. Auch das ist alles sehr unterhaltsam, ja aggressiv entertainend.

Dazwischen zeigt Holzinger Bilder, die nur schwer auszuhalten sind: Xana Novais berichtet, wie sie von einem Tätowierer vergewaltigt wurde, während ihr ein Spekulum in die Vagina eingeführt wird. Später stößt sie sich einen Haken durch die Wange, während einer willigen Zuschauerin ein Anker auf den Oberarm tätowiert wird: Wie zirzensisch die Selbstverletzungen auch daherkommen mögen, sie erzählen von tieferen Traumata, von Missbrauch, Alkoholismus, Essstörungen. 

Und die Bilder werden immer spektakulärer. Die Frauen bilden einen Springbrunnen, in dem sie sich Schläuche, wie man sie zur künstlichen Ernährung benutzt, durch Nase und Mundhöhle ziehen, entern über Seilzüge einen vom Bühnenhimmel herabschwebenden Helikopter, besteigen und begatten ihn, bis riesige Mengen Ejakulat aus dem Fluggerät schwappen. Jubel im Publikum. Gefolgt von Entsetzen, als das Geschehen ins Alptraumhafte mutiert. Mörderische Melusinen verwandeln die Becken in Blutbäder, schneiden der kleinwüchsigen Helikopter-Pilotin Saioa Alvarez Ruiz ein Monster aus dem künstlichen Bauch – das schleimige Gekröse gibt es in Großaufnahme zu bestaunen.

Die Gruselszene entpuppt sich als Geburt, eine unerschrockene Mädchen-Piratenbande, von Captain Hook aus dem Parkett rekrutiert, bringt die Talentprobe zum guten Abschluss, singt und tanzt in bester Laune zu Ed Sheerans „Bad Habits“. Die schlechten Gewohnheiten sind in den vergangenen Stunden erfolgreich exorziert und weggespült worden. Das Publikum reißt es von den Stühlen.


Die Kölner Termine am 29. und 30. März sind ausverkauft, eventuell gibt es noch Restkarten an der Abendkasse. Vom 11. bis 13. Juli gastiert „Ophelia's Got Talent“ im Düsseldorfer Schauspielhaus